Alltag, der nie alltäglich ist.
Und andere Kuriositäten.
Wo fang ich an, wo hör ich auf? Die nächsten Absätze sind sicher nicht nach Datum geordnet, ich hoffe ihr könnt mir trotzdem folgen.
Der „Dare to Differ“ Kurs hat nun begonnen seit meinem letzten Artikel. Das ist ein Angebot meiner Organisation für junge Menschen die vor kurzem nach England gezogen sind, vor allem für die Au-Pairs von In-VIA. Er thematisiert immer wieder andere Aspekte des Lebens in Großbritannien und seine Unterschiede zu Deutschland. Am ersten Samstagnachmittag hielt ein Tweed-Jacke und Hornbrille tragender Journalist einen Vortrag über britische Politik und Korruption. Sehr ehrlich und (fast) unparteiisch erzählte er verschiedensten Schwank und unglaubliche Affären aus längst vergangener Politikgeschichte bis hin zu neusten Entwicklungen und gab persönliche Zukunftsausblicke in Hinsicht auf die Wirtschaft in England und ganz Europa. Wäre der Mann ein Professor an einer Uni, wäre ich glücklich bei ihm in einer Vorlesung sitzen zu dürfen. Es war wirklich spannend endlich mal über eine andere Nation Dinge zu lernen, die man in Deutschland im Sozialkunde-Unterricht tausend mal durchgekaut hat, nur eben ausschließlich über das Land, in dem man sowieso schon so lange gelebt hat.
Mit Lina war ich an einem Mittwoch bei einem Poetry Slam in einem Oxfam Büchershop in Marylebone. Wir waren mal wieder etwas spät dran, haben dafür aber auch ohne Studentenausweis den kleineren Eintritt gezahlt. Das herausragendste Ereignis des Abends war definitiv der Poet aus Birma. Er war zum ersten Mal in London, nur wegen dem Event angereist und hat auf seine Muttersprache, Birmanisch, vorgelesen. Alles, was man neben der definitiv asiatisch klingenden Melodie verstanden hat, war einmal das Wort „facebook“... und wie immer, als ich heim ging, habe ich die lebendige Nacht in meiner neuen Stadt genossen. Da mag ich sie am liebsten.
Ich bin so froh für meine Lina hier. Ich habe das Gefühl als würde ich sie schon viel länger kennen als knapp einen Monat. Das macht das Leben weit weg von zu Hause viel leichter, weil man immer jemanden hat, mit dem man Unternehmungen planen kann, dem man Neuigkeiten erzählen und über Kleinigkeiten lachen kann, mit dem man Abenteuer erleben und die Stadt entdecken kann.
Und dank Julian haben wir eines Freitagabends den möglicherweise besten Club der Stadt besucht. Gehört hatte man vom „Koko“ in Camen Town auch schon vorher. Alle Zivis haben in ihrer Sammelmappe darüber berichtet und sind dort auch oft mit Lo-Co hingegangen. Die ganzen jungen und noch relativ unbekannten Bands aus England und auch aus dem Rest der Welt finden dort eine großartige Bühne um sich live zu beweisen. Zusammen mit drei sehr englischen Jugendlichen (George, Shannon and Lewis) haben wir „Live in Film“ und deren Vorband „Dale Earnhardt Jr. Jr.“
. erlebt, wobei die Vorband eigentlich viel besser war. Am tollsten jedoch fand ich die Location. Es sieht dort aus wie in einem kleinen Theater, fast wie in einer Oper. Mit Loge-Plätzen und mehreren Ebenen in einem sehr hohen Raum, alles ist in Rot und Gold getaucht und der Stuck glitzert durch die riesige Discokugel, die den traditionellen Lüster in der Oper ersetzt. Dieser Ort wird mich wieder sehen, ganz bestimmt.
Wovon wollte ich denn noch erzählen? Ach ja, von unserer ungarischen Woche: Dienstag ist Luncheon Club Tag. Alle paar Dienstage treffen sich die (liebevoll „Y-Mitglieder“ genannten) Oldies zum Lunch bei uns im Hotelrestaurant für ein Zwei- oder Dreigängemenü. Diesen Dienstag gab es passend zum Wochenthema Gulasch (nicht zu scharf für unsere älteren Damen und Herren) und danach einen Film mit Lilo Pulver, der im schönen Ungarn spielt. Obwohl er doch schon ein paar Jahre auf dem Rücken hat fand ich ihn überraschenderweise wirklich lustig, nur mit dem Ende waren wir Zuschauer etwas unzufrieden. Am Mittwoch, dem Musiktag mit Peter, legte selbiger Scheiben ungarischen Musikguts auf. Wir kamen in den Genuss von Brahms‘ ungarischen Liedern, komplizierten Klavierstücken von Franz Liszt, Gypsy-Musik und berühmten ungarischen Volksweisen. Würde Liszt noch leben wäre er diese Woche übrigens 200 Jahre alt geworden ;) ich sag‘s euch, nach diesem Jahr bin ich Klassikprofi erster Güte ;)
Zum Abschluss des Ungarnmarathons hat Udo am Donnerstag dann einen Vortrag über Budapest gehalten mit Bildern von seiner Reise in diese schöne Stadt diesen Frühsommer.
Letztes Wochenende habe ich trotz einer gemeinen Erkältung wieder kaum Zeit im Hotel verbracht. Freitags war Pubtag im Lieblingsschuppen und am Samstag war Freiwilligentag :) Ich hab die liebe Freiwillige im East End besucht. Sie hat mir ihr Seefahrer-Heim gezeigt, den Ort an dem sie arbeitet. Weil sie in einer weniger sicheren Gegend wohnt kann sie abends nicht ausgehen, aber zu zweit ist es kein Problem. So hab ich die tube in ihre Gegend genommen und meine Übernachtungssachen bei ihr in der Wohnung verstaut. Wir wollten uns dann abends mit einigen französischen Freiwilligen in einem Klub nahe King’s Cross zu einer EVS-Party treffen. Genau das haben wir auch getan, mit dem Zusatz einiger deutschen Freiwilligen, die auch gerade in London waren. Es ist immer wirklich interessant, mit anderen über Projekte, Kuriositäten und Erfahrungen zu reden und jeder hat so viel zu erzählen und generell sind die Meisten mit allem rundum zufrieden, was wirklich schön zu hören ist.
Nicht, dass ihr nach meinen fast ausschließlich positiven Berichten denkt, hier wäre alles perfekt. Das ist es nicht, aber es ist schon ziemlich großartig. Klar vermisse ich Familie und Freunde zu Hause und mittlerweile verstreut in der ganzen Welt und ich habe auch nicht bei allem Glück. Zum Beispiel habe ich seit fast 2 Monaten keinen Internetanschluss bei mir im Zimmer. Genau wie die Zivis vor mir. Sie mussten sich in einen für alle Hotelangestellten zugänglichen Gemeinschaftsraum setzen und das Internet für die Hotelgäste für teures Geld nutzen. Das hat natürlich immer wieder Probleme gemacht und wirklich privat ist das nicht und wie gesagt, es würde auch ziemlich ins Geld gehen. Im Moment regt sich aber ein Hoffnungsschimmer. Der Hausmeister hat den Vorschlag gemacht, mir eine Leitung ins Zimmer zu legen, ausgehend vom Büro, sodass ich eben diesen Internetanschluss mit nutzen kann. Auch wenn der Technikbeauftragte dagegen ist, sieht das im Moment als mögliche Lösung aus, was eine unglaubliche Erleichterung wäre. Ich wünschte es wäre nicht so, aber man ist heutzutage einfach sehr abhängig von Internet (Kontakt nach Hause zu Freunden und Familie, Treffen mit Leuten in London ausmachen, News nachsehen, prüfen, welche U-Bahnen mal wieder geschlossen sind, was man am Wochenende machen kann…)
Diese Woche am Donnerstag steht ein weiteres großes YMCA-Event an. Drei Oldies werden ihre neue Show präsentieren. Seit sechs Jahren gibt es zweimal im Jahr eine neue Themenshow, deren Erlös an eine Charity-Organisation gegeben wird. Mit Witz, Charme und Verkleidung wissen die drei Männer genau, wie sie ihr Publikum zum Lachen, Staunen und Spenden bringen ;) ich bin an dem Tag die Beauftragte für die Kamera und werde alles auf Film festhalten, beinah professionell ;). Deshalb habe ich auch bei den Proben schon vorbeigeschaut und der wunderbare Frank hat nur für mich „Imagine“ von John Lennon zum Besten gegeben. Das war wieder so ein kleiner, schöner Moment in dem ich gemerkt habe, wie besonders dieses Jahr ist und welch ein Glückspilz ich doch bin, dass ich hier sein darf. Wobei es nicht nur Glück ist. Glück ist auch, was man aus den Chancen macht, die man kriegt.
Zum Schluss noch ein paar unwichtige Kleinigkeiten über mein Leben, die euch möglicherweise zum Schmunzeln bringen. Ich jedenfalls amüsiere mich meist selbst über diesen Firlefanz:
1. Ich habe einen Kühlschrank in meinem Zimmer, der durchaus Essbares enthält, allerdings nicht im Sinne seines Daseins. Ich missbrauche ihn als Vorratsschrank für leckere englische Kekse, Gummibärchen, Obst und meine Getränke. Bei so viel Essen in der Kantine wäre es pure Energieverschwendung, ihn ans Stromnetz anzuschließen und so nimmt er nicht bloß Platz weg sondern verschafft mir mehr Raum für all den Kram, den ich hier anhäufe.
2. Von meinem Zimmer aus kann ich hinter der gegenüberliegenden Häuserreihe einen Kirchturm hervorragen sehen. Allerdings gehört er keineswegs zu einer Kirche. Er ist an ein Wohnhaus gebunden. Die Gemeinde wollte kein Geld dafür ausgeben, das ehemalige Gotteshaus zu restaurieren und hat es folglich einfach so umgebaut zu einem Achtzigerjahre-Wohnungsbau und den Kirchturm aus nostalgiegründen behalten.
3. Da ich kein Internet in meinem Zimmer habe und das im Büro nur in den Mittagspausen nutzen kann, schreibe ich meine Mails immer Abends auf meinem Laptop, der damit immerhin einen Zweck hier erfüllt und nicht verstaubt rumsteht. Ich speichere die Nachrichten dann auf meinen USB-Stick und kopiere die Texte vom Word-Dokument in die Nachrichtenfelder, sodass ihr Rauchzeichen von mir empfangen könnt. Die Not macht erfinderisch ;)
4. Wenn ich zum Supermarkt oder zur Post im Queensway gehe bin ich im Libanon und wenn ich mich aufmache zu meiner Bank in der Edgewear Road, bin ich in Ägypten. In jedem Viertel gibt es eine andere Nationalität, deren Immigranten mehr oder weniger alle auf einem Fleck wohnen. Bayswater/Paddington, mein Viertel, ist fast Klein-Arabien. Überall sieht man Schischa-Cafés, arabische Schriftzeichen über englischen Erklärungen und libanesische Restaurants. London ist eine Stadt, die aus vielen Ländern besteht. Der Londoner ist jemand anderes als ein Engländer.
5. Mittlerweile trinke ich viel lieber guten englischen Tee mit Milch als Kaffee. Dafür einige Tassen mehr davon am Tag.
6. Nächstes Jahr darf ich den Londoner Bürgermeister mitwählen! Man muss sich zwar anmelden aber jeder, der in London zur Zeit der Wahl einen Wohnsitz hat, darf mitbestimmen. Dieses Mal ist die Wahl ein besonders wichtiges Event. Der Gewinner ist Bürgermeister während der Zeit von Olympia und dieses Prestige möchten natürlich viele für sich beanspruchen.
7. Die einzigen Produkte, die in diesem Land wirklich billiger sind als anderswo, sind pharmazeutische.
Ganz zum Ende möchte ich jetzt noch kurz meine Eltern grüßen, die wohl größten Fans dieses Blogs ;)
Ein kleiner Nachtrag: Gestern war ein Jubeltag; habe endlich eine wireless-Verbindung in meinem Zimmer. Bin jetzt überfordert mit all den Umlauten die ich wieder habe und weiß gar nicht so recht, was ich mit dem world wide web denn nun anfangen soll ;)
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