Alles ist relativ
Ein Gespräch mit Amselles Mitschülern regt zu Überlegungen an, wie es sich woanders lebt und wie es sich anfühlt, nicht mehr zurück zu können.
Vorletzte Woche bin ich nach meinem Sprachkurs noch auf einen Kaffee mit meinen “Mitschülern“ in die Kantine gegangen. Im Verlauf unseres Kaffeeklatsches stellte sich heraus, dass alle bis auf eine Bulgarin und mich aus Hauptstädten kamen oder zumindest dort gelebt haben. Eine Französin aus Paris, ein weiterer Deutscher aus Berlin und eine Japanerin aus Tokio.
Natürlich bot es sich da an, sich über die verschiedenen Hauptstädte zu unterhalten. Was sich dabei ergab, machte mir klar, dass tatsächlich alles relativ ist. Die Französin aus Paris meinte über Madrid, dass sie hier mit ihrem Mann und ihren Kindern ein wesentlich angenehmeres Leben führe. Der Verkehr in der Stadt sei viel ruhiger, die Metro sauberer und besser ausgebaut und überhaupt sei Madrid ja so schön klein, dass man viel schneller von einem Ort zum anderen käme. Wenn man in Paris eine Stunde von einem Ort zum anderen bräuchte, dann wäre das noch gut.
Ähem – Verkehr ruhiger? Dann will ich ehrlich gesagt nicht wissen, wie es in Paris zugehen muss... :-) Der Deutsche aus Berlin meinte, Berlin sei wesentlich besser als Madrid, weil es einfach größer sei. Es gäbe nicht so viele Staus, weil die Straßennetze breiter seien und man so immer eine Ausweichmöglichkeit fände. Außerdem könne man in Berlin jederzeit mit dem Fahrrad von einem Ort zum anderen kommen, das geht hier nun wirklich nicht. Ach so – der Verkehr sei in Berlin natürlich auch nicht so verrückt.
Tja und in Tokio? Dort wird anstatt in die Weite in die Höhe gebaut, 12 Millionen Einwohner müssen ja irgendwie untergebracht werden. Die Japanerin meinte, für einige Zeit sei Tokio schon toll, allerdings wolle sie dort nicht immer leben, weil ihr das Leben zu schnell sei. Dort renne man nur von einem Ort zum anderen, um Zeit zu sparen. Ach und die Autobahnen? Die liegen dann auch schon mal auf der Höhe des 50. Stocks. Das hat mir übrigens Poyraz erzählt. Er ist auch europäischer Freiwilliger hier in Madrid und hat entweder ganz viele oder gar keine Nationalität. Das beste Beispiel für einen Europäier durch und durch: geboren in Deutschland als Sohn eines Türken und einer Polin, ab dem Alter von sechs Jahren aufgewachsen in Istanbul, dort zur italienischen Schule gegangen, in Bologna studiert, zwischendurch Abstecher nach Tschechien und Japan.
Istanbul hat übrigens 15 Millionen Einwohner. Mann, Mann, Mann – für mich unvorstellbar. Ein Moloch! Wie kann man freiwillig in einer so großen Stadt wohnen? Eigentlich sind diese Metropolen ja auch keine Städte, sondern Stadtverbünde. Vielleicht wie der Ruhrpott, nur noch ein bisschen dichter besiedelt?
Verrückte Welt! Da beschwere ich mich über die für mich großen Distanzen hier und den täglichen Stress, den das U-Bahnfahren beziehungsweise das von–einem–Ort–zum–anderen–Kommen ausmacht. Dabei geht es woanders noch viel schneller zu. Man kommt noch später nach Hause, verliert noch mehr Zeit auf seinem Weg durch den Großstadtdjungel und lebt trotzdem irgendwie.
Um nun aber nochmal zur Sprachschule zurück zu kommen: Es ist echt super interessant, wie viele Menschen unterschiedlicher Herkunft man dort jeden Tag trifft. Die Escuela Oficial de Idiomas Jesús Maestro ist zudem die älteste und größte in ganz Madrid. Sie wird 2006 hundert Jahre alt und bietet um die 20 Sprachen an. Darunter auch Finnisch, Rumänisch, Polnisch, Arabisch, Holländisch, Chinesisch, Schwedisch und was weiß ich noch. In meiner Klasse gibt es Deutsche, zwei Polinnen, eine Russin, zwei Chinesinnen, zwei Japanerinnen, ein Mädchen aus dem Iran, dessen Vater hier in der Botschaft arbeitet und eine Slowenin, eine Bulgarin, eine Französin und eine Italienerin. Wenn ich sehe, wie neben mir auf Japanisch, Chinesisch, Farsi oder Kyrillisch geschrieben wird, bin ich jedes Mal froh, dass ich nicht auch noch das lateinische Alphabet lernen musste, um Spanisch verstehen zu können. Auch die Ausdrucks- und Denkweise zum Beispiel der Japaner und Chinesen ist total verschieden. Sie können nicht einfach ein Wort in ihre Sprache übersetzen, weil es dieses Wort bei ihnen gar nicht gibt. Schon Wahnsinn! Und ich habe einen Riesenrespekt davor, dass sie trotzdem nie aufgeben und fleißig weiter lernen.
Auch sonst ist Madrid ein Meltingpot. Man muss sich nur in ein Abteil eines Regionalzuges setzen, sei es zur Rushhour oder auch dann, wenn nicht so viel los ist: mehr als fünf Nationalitäten sind sicher immer vertreten. Und das tolle ist, dass sie wirklich von allen Kontinenten kommen. Australien fehlt vielleicht manchmal, aber sonst? Hier gibt es sehr viele Asiaten, die in ihren 24-h–Lebensmittel- oder Ramschläden die neusten Plagiate aus China an den Mann bringen. Dann die ganzen Südamerikaner (die meisten kommen aus Ecuador und Kolumbien), aber auch Afrikaner. Zum einen die Marrokkaner - also Leute mit eher arabischem Einschlag, aber auch Afrikaner südlicherer Länder. Dazu kommen dann noch die Ost- und Westeuropäer, es gibt auch viele Einwanderer aus Russland, Moldawien, der Ukraine, Weißrussland, Polen, Bulgarien und Rumänien. Manchmal sehe ich Gesichter, wo ich beim besten Willen nicht sagen kann, woher sie stammen. Anstatt in der Metro zu lesen, wie es viele tun, beobachte ich also meistens Leute, das ist viel spannender. :-)
Auf der anderen Seite macht mich es aber auch sehr traurig, zu sehen, dass diese Menschen ihre Heimatländer für immer verlassen und dort alles aufgegeben haben, um ein neues Leben in Spanien zu beginnen. Die Hoffnung auf ein besseres Leben hat sie hier her gebracht. Manche wirken auf mich wirklich entwurzelt, irgendwie desillusioniert, auch abgestumpft. Es tut mir so leid, dass andere Menschen – ja – fast gezwungen sind, ihre Heimatländer ohne Aussicht auf Rückkehr zu verlassen. Wo ich doch froh bin, dass ich jederzeit auch wieder nach Deutschland zurückkehren kann, wo es einen Platz und eine Zukunft für mich gibt.