Äthiopiens Willy Brandt II
Fast 50 Jahre nach Willy Brandts Verständigungspolitik durchleben Äthiopien und seine ostafrikanischen Nachbarstaaten unter dem neuen Premier Abiy Ahmed eine unvorhersehbare Entwicklung - erleben wir gerade einen Wandel durch Annäherung 2.0?
Von Warschau nach Asmara, von Berlin nach Addis Abeba
Gingen die Bilder vom 9. November 1989 vom geteilten Berlin in die Zeitungen und Nachrichten aller Welt hinaus, so blieb es nach den Ereignissen vom 11. September 2018 verhältnismäßig ruhig. Dabei markiert jener Dienstag einen für die Friedenssicherung auf dem afrikanischen Kontinent einmaligen Moment – der Präsident Eritreas, Isayas Afewerki, und sein äthiopischer Partner Abiy Ahmed haben soeben einen der weltweit umkämpftesten Grenzverläufe eröffnet; nach zweijährigen Kampfhandlungen Ende der 1990er Jahre, die zehntausende Opfer forderten und über eine Millionen Zivilisten zur Flucht trieben, nach über 20 Jahren angespannter Ungewissheit und in ständiger Bereitschaft zur Mobilisierung sollte dieser schwelende Konflikt ein erhofftes, wenn auch überraschendes Ende finden.
Wenn es in der Vergangenheit überhaupt einen Austausch auf bilateraler Ebene zwischen der eritreischen und der äthiopischen Seite gab, dann vielmehr mit den Mitteln einer auf Kosten der Bevölkerung nicht tragbaren Militarisierung und Abschreckung statt einer friedensorientierten Dialogbereitschaft. Es ist nicht bekannt, ob Abiy Ahmed von der außenpolitischen Konzeption Brandts Bescheid wusste oder jemals von Egon Bahrs Tutzinger Rede 1963 und dem "Wandel durch Annäherung" der sozialliberalen Koalition hörte. Unabhängig davon erleben wir mit Ahmeds Friedensversuchen die Wiederbelebung einer Politik mit dem Glauben, den Frieden nur langfristig durch einen Abbau der Spannungen sowie durch die Anerkennung der gegenwärtigen Verhältnisse sichern zu können; die äthiopische Reformen können auch nur dann Früchte tragen, wenn die anderen ostafrikanischen Nachbarn Teil einer neuen Friedensordnung sind. Wer also, wenn nicht Abiy Ahmed, der als ehemaliger Grenzsoldat im äthiopisch-eritreischen Krieg die Sinnlosigkeit und Brutalität ungelöster Konfliktherde miterleben musste, kann diese Wunde heilen?
"Die äthiopischen Reformen können nur dann Früchte tragen, wenn die anderen ostafrikanischen Nachbarn ebenfalls Teil einer neuen Friedensordnung sind"
Äthiopischer Gorbatschow oder Mandela wird Ahmed jetzt gern von seinen Unterstützern genannt, und das ist angesichts seiner Auswirkungen auf die verkrusteten Zustände nicht mal übertrieben. Die von ihm eingeleiteten ersten Schritte stehen für eine Zeitwende, in welcher die Konfliktseiten mit Gesprächen statt Waffen für ein Nebeneinander eintreten. War es nicht auch Willy Brandt, der als erster Bundeskanzler der Bonner Republik im Frühjahr 1970 – wie Ahmed während einer von ihm selbst angestoßenen Tauwetterperiode mit den Nachbarn – nach Erfurt reiste und mit den politischen Vertretern des "Feindes" debattierte? Sind die unter Brandt vermittelten Verträge zwischen Bonn und Moskau, Warschau sowie Prag vielleicht gar als Vorbild zu bewerten hinsichtlich heutiger Bemühungen um einen Friedensausgleich?
Äthiopischer Frühling – ostafrikanische Revolution?
Militärische Offensiven stellten seither keine Seltenheit am Horn von Afrika dar, aber eine des Friedens – darauf mussten die Menschen bis zu jenem Sommer warten. Berechtigterweise machen sich nach dem demokratischen Prozess in Addis Abeba nun die Einwohner anderer, ebenfalls von Krieg, Not und Leid gezeichneter Staaten Ostafrikas Hoffnung auf positive Kopplungseffekte. Tatsächlich sind die Auswirkungen des Äthiopischen Frühlings mit all seinen fortschrittlichen Errungenschaften bereits in die Nachbarstaaten exportiert. Der Friedensschluss mit Eritrea kann ungeahnte Kräfte freisetzen, kann den Dominoeffekt demokratischer Bestrebungen gerade erst ausgelöst haben – denn eines ist sicher: Abiys Versuch und Erfolg, Veränderungen nicht mehr auf repressivem Wege, sondern auf der Basis eines freiheitlich-demokratischen Ausgleichs durchzusetzen, hat Wirkung hinterlassen.
Abiy Ahmed stellt nicht nur wegen seinen ernsthaften Absichten zur Völkerverständigung auf dem afrikanischen Kontinent eine Sonderheit dar. Auch versteht er sich als das komplette Gegenstück zu den alten Eliten afrikanischer Präsidenten à la Couleur Robert Mugabe oder Paul Biya, die sich in Simbabwe bzw. Kamerun über Jahrzehnte gegen jegliche Reformen querstellten.
"Heute ist die Zeit des Friedens. Die Region des Horns von Afrika wird mehr und mehr zu Frieden finden (...) Ich denke, dass es Dank der Beruhigung, dem Frieden und der Stabilität zu einer regionalen Integration kommen wird."
Außenminister von Dschibuti während eines Friedensgipfels mit Eritrea, September 2018
Die ersten Wellen des äthiopischen Umdenkens bekam die alte Garde um Präsident Isayas Afewerki in Asmara zu spüren. Durch die Friedensoffensive des "äthiopischen Feindes" und Abiys Signale der Versöhnung verliert die strenge Militarisierung der eritreischen Gesellschaft zunehmend ihre Daseinsberechtigung. Waren jahrelang die Positionen in Asmara klar verteilt – das große Äthiopien als der übermächtige, aggressive Feind und das kleinere Eritrea unter dem unfehlbaren Afewerki – so sind Abiys Worte von solch ausgleichendem Charakter, dass die Legitimationsgrundlage für eine weitere Aufrüstung ad absurdum geführt wird.
Die Auwirkungen des letzten Sommers können noch weitreichender sein, als sich die meisten vorstellen können und betreffen indirekt auch die gegenwärtigen Diskussionen in Europa um die afrikanische Migration. Tatsächlich werden die Öffnungen der Grenzen zu Äthiopien die Migrationsströme aus Eritrea nach Europa stark beeinflussen, schon jetzt werden Vergleiche zur Endphase der DDR laut. Zwar sind die geöffneten Grenzen einerseits Symbol für das neue Klima am Horn von Afrika, anderseits stellen sie aber sowohl Äthiopien als auch Europa vor neue Herausforderungen.
"Von Addis Abeba aus verbreitet sich ein frischer Wind des Friedens, der für eine Abkühlung der angespannten Region - von Äthiopien nach Eritrea, von Dschibuti nach Somalia - sorgt"
Allein die Tatsache, dass Abiy mit seinen friedlichen Absichten und dem mutigen Versuch, in ein neues Zeitalter vorzustoßen, den früheren Todfeind Eritrea und Afewerki in viel größere Schwierigkeiten bringt als all die rhetorische Agitation und produzierten Waffen der Vorgängerregierungen, zeigt die Überlegenheit gewaltloser Friedensbemühungen gegenüber Repression und Abschottung. Jeder weitere Schritt in Richtung Öffnung wird den Menschen ein Stück mehr Optimismus geben. Blickt man also auf die vergangenen Monate am Horn von Afrika zurück und zieht eine Bilanz, so muss der durch Annäherung entstandene neue Status quo als einmalige Chance bewertet werden. Als Chance für den lang ersehnten Frieden, für ein Ende des gegenseitigen Misstrauens und einen Anfang gutnachbarschaftlicher Koexistenz. Diplomatie statt Waffen, Dialog statt einseitige Agitation. Und vielleicht können wir tatsächlich in wenigen Jahren Zeugen eines ostafrikanischen Zusammenschlusses oder der Schlichtung des somalischen Bürgerkrieges werden – oder waren es nicht etwa Willy Brandts Reformen, die den Grundstein zu einem geeinten Deutschland in europäischer Gemeinschaft bildeten?
http://www.spiegel.de/spiegel/fluechtlinge-wie-ist-die-lage-in-eritrea-a-1175661.html
http://www.spiegel.de/politik/ausland/eritrea-wird-das-nordkorea-afrikas-jetzt-ein-normales-land-a-1219061.html
https://www.deutschlandfunk.de/aethiopien-hoffen-und-bangen-mit-abiy-ahmed.1773.de.html?dram:article_id=439471
https://af.reuters.com/article/topNews/idAFKCN1LN0RN-OZATP