Adršpach
Eine Reise vom Elefantenplatz bis zum Zuckerhut.
Als ersten eigenen Ausflug hatten wir geplant, die Felsenstadt Adršpašsko-Teplické skály zu besuchen. Bitte verzweifeln Sie nicht bereits am Namen. Es gibt auch eine deutsche Übersetzung, die völlig ohne diese komischen Haken über den Buchstaben auskommt. Auf Deutsch heißt es: „Adersbach-Weckelsdorfer Felsenstadt”. Gar nicht so kompliziert, oder? In dieser Felsenstadt findet man viele Sandsteinfelsen. Die 17,7 Quadratkilometer große Fläche liegt auf etwa 500 m ü. NN, während der höchste Berg (Starozámecký vrch) auf einer Höhe von 671 m ü. NN liegt. Eine durchaus nicht zu vernachlässigende Höhendifferenz. Gerade in Tschechien, wo man als Alpinist ganz stark sein muss.
Im Verlauf der Kreidezeit hatte sich eine Sandsteinplatte gebildet, die der Erosion ausgesetzt war. Wasser, Sonne, Frost und Wind formten nach und nach die beeindruckenden Felsformationen. Sogar zwei Burgen und eine Ruine gibt es hoch oben auf den Felsen. Jedoch sieht man heute nur noch Spuren dieser einst strategisch wichtigen Festungen. Auch die Felsenstadt hat eine interessante Geschichte. Vor dem achtzehnten Jahrhundert traute sich die Bevölkerung kaum in sie hinein. Der Mystizismus, er war schon immer tief verwurzelt in der tschechischen Gesellschaft. Nun sag', wie hast du's mit der Religion, Tschechien? Laß das, mein Kind, seh’, was ich für Gespenster find’. Vierhundert Jahre später zum Beispiel das Gespenst des Kommunismus, das in Europa umherging.
Noch sind wir aber im Jahre 1700. Die ersten Abenteurer aus Schlesien stießen vorsichtig in das unbekannte Gebiet vor. Neunzig Jahre lang wurde die Felsenstadt vorbereitet, dann kam kein anderer als Johann Wolfgang von Goethe, unser Nationaldichter. Das war nach Clavigo, aber noch vor Faust. Er führte dort naturwissenschaftliche Untersuchungen durch. Kaum ein einflussreicherer Mensch wird seitdem je durch die Schluchten gegangen sein.
Im Jahre 1824 brach ein verheerender Waldbrand aus, der mehrere Wochen dauerte und den Waldbestand vernichtete. Schade um das Holz, aber wenigstens konnte das Gebiet danach touristisch erschlossen werden. Es wurden Wege angelegt und der Rest ist Geschichte. Heute steht das Gebiet unter Naturschutz. Was lange währt, wird endlich gut. Und 145 Millionen Jahre sind eine verdammt lange Zeit.
Wir suchten uns einen Sonntag aus. Das Wetter würde wunderbar, so der Wetterbericht. Unebenes Terrain erwartend, zog ich meine ledernen Wanderschuhe an. Nahm einen Liter Joghurt mit, mein zweites Frühstück. Andere nutzen den Sonntag als Ausschlaftag, doch daran war nicht zu denken. Früh morgens ging ich zum Bahnhof. Wir kauften eine Gruppenfahrkarte, die unverschämt günstig schien. Man wusste nicht, ob die Dame der Bahngesellschaft einen Fehler bei der Buchung gemacht hatte oder es wirklich so günstig war. Letzteres war bisher immer der Fall, was einem durch die erfolgreich überstandenen Fahrkartenkontrollen stets bestätigt wurde. Wenngleich die alten Dieselloks nicht über die Dämpfungselemente eines modernen Zuges verfügten, so waren die eigenartigen Eigenheiten der Eisenbahn umso authentischer. Jedes Mal, wenn man einen der zahlreichen Bahnübergänge passierte, läutete eine Glocke. Die Weichen warfen einen umher, im gleichmäßigen Takt fuhr man über Schweißnähte, konnte sich nur ausmalen, wie aufwendig es gewesen sein muss, diese zu setzen. In der Schule hatten wir einst mit Thermit experimentiert, jener Chemikalienmischung, die imstande war, Metallstücke miteinander untrennbar zu verbinden. Oder sich durch ein Tongefäß, kurz danach den Schnee zu brennen und die Schulwiese partiell in Brand zu setzen.
Nach einer Dreiviertelstunde waren wir schon da. Der Bahnhof lag direkt neben dem Eingang zum Park. Eintritt wurde fällig. Wir waren weder Rentner, Schüler noch Hunde, weshalb wir eigentlich den vollen Preis bezahlen hätten müssen. Jedoch drückte die Frau an der Kasse ein Auge zu und akzeptierte unsere Freiwilligenausweise. Schon mehrmals habe ich derartige Erfahrungen in Osteuropa gemacht. Meist wird einem ein Nachlass gewährt. Manchmal reicht es, den Ausweis vorzulegen, selten reicht allein schon das Wissen der Dame darüber, dass man sich freiwillig für die Stadt engagiert, aus, um in den Genuss eines günstigeren Tarifs zu kommen. Einmal kamen wir sogar komplett kostenlos in ein Schwimmbad. Das stellt aber die Ausnahme dar. Solch ein Schlaraffenland ist Tschechien dann leider doch nicht.
Mit einer englischen Broschüre gingen wir durch das Tor. Fortan erkundeten wir den Park. Es gab viel zu entdecken. Ziemlich zu Beginn der Rundroute ging es ein paar Treppen hinauf. Man hatte einen wunderschönen Ausblick auf den See, der dort blau in der Sonne schimmerte. Wir blieben kurz stehen, machten Bilder, wollten weiter, blieben dann aber weiter stehen und warteten aufeinander. Einer (nicht ich) packte sein Frühstück aus und aß es, woraufhin die anderen auch der Hunger packte und sie ihres ebenfalls zu sich nahmen. Die geschlechtsspezifische, unterschiedliche Ausprägung der vesica urinaria sorgte ferner dafür, dass sich unser Aufbruch noch weiter hinauszögerte. Zügig gingen wir weiter, während manche – erschöpft vom Treppenlauf – schlendernd folgten. Es führte unweigerlich zur Auftrennung in zwei Gruppen. Ein wenig komisch war es durchaus, sich voneinander zu trennen, wo man sich doch erst wenige Tage kannte und der Grundgedanke beim Europäischen Freiwilligendienst die Gemeinschaft war. Diese Idee in allen Ehren, aber es ging einfach nicht. Im Motorsport gibt es verschiedene Rennklassen. Und bei einem Formel-1-Rennen will man schließlich auch kein Kart dabei haben. Ein Olympionike sagte auf eine ähnliche Problemstellung im Jahre 2014 im Rahmen der Olympischen Winterspiele in Sotschi hin: „Wir brauchen keine Bremsen.” So drastisch würde ich es nicht ausdrücken, denn die “langsame” Gruppe bestand zum großen Teil aus Leuten, die viele der großartigen Fotos gemacht haben, die Sie in der Galerie unten bestaunen können. Zum tragischen Schicksal des Fotografen bei gemeinsamen (Sport-)Veranstaltungen könnte man einen eigenen Text schreiben. Es ist der Preis, den man für gute Bilder zahlt, jedes Mal der Letzte zu sein und rennend wieder zur Gruppe aufschließen zu müssen, bloß, weil man Bilder gemacht hat, die die anderen nach dem Trip alle haben möchten, sich dabei dem Akt der Hypokrisie nicht bewusst zu sein, den sie eben in diesem Moment begehen. Die Trennung in zwei Gruppen war somit eine Entscheidung, die allen zugute kam.
Die imposanten Felsnadeln waren überall. Auf kleinen Informationstafeln konnte man den Namen dieser “Figuren” finden. Die Leute damals waren entweder sonderbar kreativ oder standen unter Drogen, soviel war sicher. Zu den bekanntesten Felsen gehören laut der entsprechenden Seite im Netz „Die Liebhaber”, der „Bürgermeister” und „die Bürgermeisterin”, der „Zuckerhut”, „Rübezahls Lehnstuhl”, der „Krug” und der „Elefantenplatz”. Wieder fanden sich auch Rechtschreibfehler in der deutschen Übersetzung. Mittlerweile war es normal und irgendwie sympathisch geworden. Es macht den Reiz der deutschen Sprache aus. Man verstand es, keine Frage. Doch hier ein einfaches „f” statt eines doppelten, Groß- und Kleinschreibung noch miserabler als in den Diktaten meiner Mitschüler, doch das fiel nicht ins Gewicht. Allein der Umstand, eine deutsche Übersetzung – neben der englischen – zu finden, war eine Neuerung. Kleine Imperfektionen, die sich passend einfügten in die allgemeine Stimmung beim EVS. Es versucht zu haben, wenngleich nicht alles erfolgreich war, dieser Anspruch jedoch auch nie gestellt wurde. Die imaginäre Teilnahmeurkunde für den tschechischen Übersetzer und uns Freiwillige.
Wir erkundeten den Park im Schnelldurchlauf. Nach einiger Zeit immergleichen Laufens kamen wir an eine Knickstelle. An meiner Schule in Deutschland durfte ich im Mathematikunterricht zum Thema Knickstellen in Funktionen noch eine sagenhafte Präsentation sehen. Nach einer Kurvenfunktion, die die beiden Wege elegant verbinden würde, suchten wir nicht. Stattdessen ein wenig Abwechslung. Wir sahen zwei Männer, die aus dem Wald (seit 1824 waren scheinbar wieder Bäume gewachsen) kamen, der hinter einer Holzabsperrung lag. „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!”, dachten wir uns und machten quasi einen fliegenden Wechsel mit den Männern. Eigentlich hatten wir vermutet, zu ein paar “geheimen” Felsen zu kommen. Insgeheim hoffte ich auch, endlich ein paar Steinpilze, Maronen-Röhrlinge oder Pfifferlinge zu finden. Bisher hatte der Lebensmittelhandel das Monopol darauf. Die Wälder waren wie leergefegt. Da komme ich für ein Jahr meines Lebens ins Pilzsammlerland schlechthin und es ist ausgerechnet das schwächste Pilzjahr seit Ewigkeiten. Es war die Ironie, mit der man zurechtkommen musste. Kein einziges Exemplar entdeckte ich im Wald. Einen Felsen fanden wir auch nicht. Nach einiger Zeit des Fußmarschs hatten wir genug. Es schien, als würden wir nicht mehr auf den richtigen Rundweg zurückkommen. Wie weit ist die Technik fortgeschritten. Früher hätte man eine Wanderkarte gezückt, heutzutage hat man dafür das Mobiltelefon. Mithilfe des globalen Navigationssatellitensystems zur Positionsbestimmung „GPS (Globales Positionsbestimmungssystem)” konnten wir feststellen lassen, wo wir uns befanden. Auf der virtuellen Karte sahen wir, dass wir auf halbem Weg nach Polen waren. Wir sahen genau, wo wir vom Rundwanderweg abgekommen waren und dass es nun nur noch wenige hundert Meter bis zur polnischen Grenze waren. Wir kehrten wieder um. Der Rückweg kam uns ungleich kürzer vor. Der sogenannte „Rückreise-Effekt” trat ein. Die anderen Touristen – größtenteils Japaner – sahen uns erstaunt an, als wir wieder über das Geländer stiegen.
Bei der vielleicht bekanntesten Felsformation, dem Bürgermeister und der Bürgermeisterin, machten wir ein Bild. Beziehungsweise ließen wir eins machen. Beziehungsweise drei. Wir fragten ein Pärchen, ob sich einer der beiden bereit erklären würde, Bilder von uns als Gruppe zu machen. Die Frau willigte ein und ihr extrovertierter Freund wollte kurzerhand auch auf dem Foto sein und stellte sich hinter uns gut sichtbar auf. Es wäre mir möglich, ihn in akribischer Kleinstarbeit wieder graphisch aus dem Bild zu entfernen, doch dafür ist mir die Zeit zu schade.
Treppen ging es hinauf und Treppen wieder hinunter. Eine der Freiwilligen merkte an, dass es ein gute Möglichkeit sei, eine Muskelhypertrophie im Musculus gluteus maximus zu provozieren. Sie formulierte es anders. Kein Felsen, aber ein Findling fand sich nach einer Weile. Darauf saßen in Reih und Glied die Freiwilligen der zweiten Gruppe. Sie hatten uns offensichtlich überholt. Vom Umweg Richtung Polen wussten sie nichts, weshalb sie erstaunt waren, uns nun nach ihnen kommend zu sehen. Sie aßen. Wir stießen dazu und ließen ein weiteres Gruppenbild, nun auch tatsächlich mit allen Freiwilligen, aufnehmen.
Nach einiger Zeit knurrte uns wieder der Magen und wir hofften, eine bewirtete Hütte oder etwas in der Art zu finden. Es gab auch etwas. Einen kleinen Imbiss, der Waffeln verkaufte. Ein paar der Freiwilligen schlugen zu, manche blieben knickrig, ein anderer Freiwilliger und ich kauften gegrillten Käse. Vier Stücke. Eigentlich wollte ich nur drei und die für mich, doch der Käsegriller hat es scheinbar missverstanden oder ich redete undeutlich, sodass ich vier bekam, was mir jedoch in die Karten spielte, denn so teilten wir die vier Stücke, jeder bekam zwei, ich bekam den Gegenwert und alle waren glücklich.
Mit der kleinen Stärkung im Bauch war die Reststrecke des Rundwegs kein Problem mehr. Wir hatten vorher nachgeprüft, wann die Züge wieder abfahren würden und einen gewissen Zeitpuffer eingeplant. Obschon noch genug Zeit war bis zur geplanten Abfahrt, war es ebenfalls nicht mehr wirklich aufregend, noch länger im Park zu bleiben, weshalb wir schon zum Bahnhof gingen. Einer der Freiwilligen hatte eine Wurfscheibe mitgebracht, mit welcher fleißig gespielt wurde. Einmal landete sie fast auf dem Dach, konnte dann aber schlussendlich im Straßenbegleitgrün der angrenzenden Straße aufgefunden werden. Der Bahnhof wurde zwar angefahren, jedoch war das Bahngebäude geschlossen, sodass wir darauf angewiesen waren, die Fahrkarte für unsere Gruppe im Zug zu kaufen, was in Tschechien zum Glück problemlos möglich ist. Auf längeren Zugreisen kostet es eine happige Gebühr, doch bei geringer Distanz und in einem solch kleinen Zug war es nur unwesentlich teurer. Wir reden hier von Centbeträgen. Die einfache Fahrt hat nur etwas mehr als einen Euro gekostet. Wieder ging es übers Land. Erst die Schilder der Bahnhöfe ließen einem wieder klar werden, dass man sich nicht in Deutschland befand. Die Landschaft war quasi austauschbar. Žďár nad Metují, Velké Poříčí, ich verstand nur Bahnhof.
In Hronov verabschiedeten sich wieder die zwei Mädchen, die dort ihre Wohnung und Arbeit hatten. Bald darauf erreichten wir auch wieder Náchod. Als Ausgangspunkt für Ausflüge war diese Stadt ideal. Viele der verlockendsten Destinationen Tschechiens waren schnell mit dem Zug erreichbar. Dieser Ausflug markierte den Beginn einer erfolgreichen Serie weiterer Reisen. Einen der letzten Spätsommertage hatten wir erfolgreich genutzt.