4 x Wroclaw
Johannson schildert in vier Anekdoten die Eindrücke der letzten Tage. Regen, Straßenmusik, ein Film und ein Geisterhaus samt Widkatze sind dabei nur einige der Themen.
1. Besser sehen im Dunkeln
Sonntag war ein grauer Tag in Erwartung des sicheren Regens. Abends wurde es früh dunkel und Sprühregen wehte durch die Luft: es wird Herbst. Ich entschloss mich zu einem Spaziergang in warmer Regenjacke, die leeren Straßen in der Dämmerung gefielen mir. Ich lief in Richtung des Wasserturms und der Kirche im Westen, deren Spitzen ich vom Balkon immer hinter den Schrebergärten sehe, über denen abends der Dunst liegt. Der Wasserturm ist ein Restaurant. Die Kirche sieht von weitem aus wie eine Zitadelle mit ihrem massiven, weißen Turm, und als ich ankam begann gerade Jugendgottesdienst. Der Pfarrer war jung und nervös. Auch danach blieb eine Menge fröhlicher Jugendlicher.
Danach lief ich ziellos weiter durch die beleuchteten Straßen, es war dunkel und sprühte gegen die Brillengläser, man sah und wurde nicht gesehen. Wenige Menschen, die tief hängenden Wolken reflektieren das Licht der Stadt, es war etwa wie die letzten Stunden vor Mitternacht zu Silvester. In den erleuchteten Fenstern fühlen sich die Leute unbeobachtet. Fast war mir wie in den ersten Wochen in England, als man vor lauter Begeisterung durch die ödesten Industrieorte gelaufen ist. In der Dunkelheit ist wieder alles spannend, jede Ecke verspricht ein Geheimnis dahinter.
2. Hoppa
Am nächsten Tag war auf dem Marktplatz das „Festival der ethnischen Minderheiten“. Als ich kam, tanzen die Mexikaner wild mit irgendwelchen kostümierten Asiaten. In der Pause danach beschlossen die Goralen, südpolnische Bergbewohner, singend durch die Straßen zu ziehen. Ich musste nach Hause; noch einige hundert Meter hallten ihre melancholischen Lieder um die Ecken nach.
3. Strach
Vor einem Monat wollte ich zur Unibibliothek, nicht weit von der alten Synagoge, weitere Tandemanzeigen anbringen. Doch das Gebäude war gesperrt, in der Straße wurde ein Film gedreht wurde. Ich habe Poster gesehen, dass Statisten für die Biografie Reich-Ranickis gesucht werden, vielleicht war es das. Jedenfalls wurde einmal mehr der Abtransport der Juden gefilmt. Die Gebäude der Straße sind wenig restauriert, das Ganze wirkt sehr zeitgemäß und es ist ein äußerst merkwürdiges Gefühl, die Kinder mit den blau-weißen Armbinden und aufgemalten Blessuren marschieren zu sehen, flankiert von jungen Männern in Naziuniform, Maschinenpistole und Reitpeitsche. Viele Schaulustige stehen und gucken. Hinter mir läuft ein Schnauzbartträger vorbei. „Jude kaputt. Heil Hitler!“
4. Geisterhaus
Heute war ich in der besten Kneipe der Stadt, vor der Synagoge. Die fand ich zum ersten Mal offen; es gab ein Konzert. Der Innenraum ist nüchtern, nur der zentrale Bereich um den Toraschrein gestrichen, eine Bima gibt es nicht. Die vermutlich seit der Deportation unberührten oberen zwei Logenränge geben dem Raum die Atmosphäre eines verfallenen Theaters aus Hitchcock Filmen. Fühlen sich nicht so leer an wie sie aussehen. Polnische, deutsche und armenische Musikstudenten spielten „Jüdische Kompositionen aus der Zeit des Nationalsozialismus“. Drei Gruppen in einem Raum, und trotzdem ist er herrenlos.
Im Publikum saßen ältere, gut situierte Paare, oft Deutsche. Die Organisatoren hielten korrekte Reden, man war sehr offen und sich der Situation bewusst.
Die Musik war gut. Die armenische Pianistin, ein zierliches Mädchen mit sonst herrlich schüchternem Lächeln, saß vor dem Klavier wie eine Wildkatze. Den Kopf tief zwischen den Schultern, die schwarzen Augen starr auf die Noten gerichtet, der Mund ein erbarmungsloser Strich. Wenn ihre Nase mit den Noten auf Tuchfühlung ging sah es aus als würde sie gleich nach vorn schnellen um das Klavier mit Haut und Haaren zu verschlingen.