13. Platz: Polen - eine Liebeserklärung an das Polen, die Polen und an Einen ganz besonders
"Er hieß Jan. Unsere Großväter wurden im selben Jahr geboren." So beginnt eine wundervolle Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen, die sich nur in dieser Zeit und an diesem Ort in Polen begegnen konnten.
Er hieß Jan. Unsere Großväter wurden im selben Jahr geboren. 1929. Der Eine in einem kleinen Örtchen auf der schwäbischen Alb. Der Andere ebenfalls in einem kleinen Örtchen. In der zweiten Republik Polens. Beide verlebten friedliche Kindheitsjahre. Bis 1939. Der Erste verlor seinen Bruder im Krieg. Der Zweite landete in einem Arbeitslager und überlebte nur mit viel Glück die kommenden Jahre. Sein Vater starb in Auschwitz. Wären sich unsere Großväter nach Kriegsende begegnet, wären sie sicherlich keine Freunde gewesen. „Schwabe“ ist in Polen ein Schimpfwort.
„Warum bist du nach Polen gekommen“ fragte mich Jan, als wir uns das erste Mal im Café Polyester in Warschau trafen. Ja warum denn? Ich zuckte die Achseln. Eine Mit-Freiwillige, die neben mir saß, war schneller. Sie wolle Vorurteile abbauen zwischen Deutschen und Polen, sagte sie. So eine vorzeigbare Antwort hatte ich nicht. Eigentlich war ich nur deshalb gekommen, weil ich in meinem ersten Freiwilligendienst in England das Gefühl gehabt hatte, nicht wirklich viel helfen zu können. Die Tagesabläufe waren immer gleich, der Personalschlüssel zwischen Betreuern und Behinderten mehr als nur gut und irgendwie war ich nicht wichtig. Doch ich wollte etwas tun, etwas bewirken, gebraucht werden. Deshalb war ich für ein zweites Jahr nach Polen gekommen. Ich wollte dort helfen, wo es den Menschen schlechter ging. Irgendwo in Osteuropa. In welchem Land genau, war mir egal. Es war doch alles eines. So kam ich nach Warschau. Aber konnte ich das auch so einem Polen sagen, der stolz auf sein Land war und sich dazu bereit erklärt hatte, unser Mentor zu sein?
Ich wollte Polen kennen lernen, sagte ich. In Deutschland weiß man so wenig darüber.
Mein Projekt hieß Helenów. Es lag am Stadtrand von Warschau. Ein Rehabilitationszentrum für Kinder. Immer herrschte Geldmangel. Aber das merkte man im Alltag nicht. Die Erzieher, Therapeuten und die anderen Angestellten waren so offen und hilfsbereit. Die Kinder wurden geliebt. Die Atmosphäre war herzlich. Zum Kindertag im Juni gab es ein riesiges Fest mit Hüpfburg, Karussell und Zuckerwatte. Die Arbeit mit den Kindern war wunderschön, alle waren so glücklich. Immer gab es etwas zu tun und zu feiern. Irgendwo bekam man die benötigten Sachen immer her. Das hatten die Polen nach Jahren der Kriege und Besetzungen ihres Landes gelernt. Und obwohl es viel weniger Geld gab, waren alle doch viel zufriedener. Das hatte ich nicht erwartet. Ich dachte, man würde merken, dass es den Leuten hier schlechter ging. Aber es waren doch nur materielle Dinge. Auch wenn Ansehen und Geld natürlich auch in Polen sehr wichtig sind, so zählen doch die einzelnen Menschen noch viel mehr. Familie. Freunde. Nachbarn. Die Nation, das Land. Das finde ich schön.
Wir trafen uns oft mit Jan und unseren anderen Mentoren. Sie halfen uns, die Stadt und das Leben in Warschau kennen zu lernen. Ohne Sprachkenntnisse war das am Anfang gar nicht so einfach. Vor allem Jan erzählte uns auch viel über Polen und seine Geschichte. Durch Jans Hilfe lernten wir Polen ein bisschen besser kennen. Denn zugegebenermaßen hatte ich vor meinem Freiwilligendienst wirklich keine Ahnung von unserem Nachbarland im Osten. Ich wusste nicht, dass es einst zusammen mit Litauen um ein vielfaches größer war als heute. Nur um dann Ende des 18. Jahrhunderts für über 100 Jahre komplett von der Landkarte zu verschwinden, weil Russland, Österreich und Preußen Polen unter sich aufteilten. Ich lernte zu verstehen, warum Polen heute eigentlich so ist, wie es ist. Warum der Nationalstolz für die Polen so wichtig war und ist. Ohne ihn hätten sie wohl die vielen Besetzungen ihres Landes nicht überlebt. Es nicht überwunden, dass sowohl Nazis als auch Russen versuchten, die polnische Intelligenz auszurotten. Und obwohl die Deutschen viel zu Polens Leid beigetragen haben, bin ich von den Polen immer nur freundlich empfangen worden. Auch Jans Großvater war freundlich gegenüber meinen zwei deutschen Mitfreiwilligen und mir, als wir ihn Heiligabend beim polnischen Weihnachtsfest bei Jans Familie kennen lernen durften.
Das Weihnachtsfest ist ein besonders schönes Fest in Polen und neben Ostern eines der beiden tradiotionellesten christlichen Feste im katholischen Polen. Nachdem der erste Stern am Himmel erschienen ist, wünscht man sich gegenseitig beim Brechen von Oblaten etwas Gutes. Dann gibt es Essen, traditionell 12 Gänge. Am Tisch gibt es ein leeres Gedeck für den unerwarteten Gast. Natürlich gibt es auch einen Weihnachtsbaum, eine aus Deutschland kommende Tradition.
Polen ist ein Land voller Traditionen. Und voller Werte. An Allerheiligen geht man auf den Friedhof und stellt Kerzen auf die Gräber der Verstorbenen. Die Lichtermeere, die sich dadurch ergeben sind mehr als beeindruckend. Am 15. August ist der Tag es Militärs. In Warschau gibt es dann eine Parade mit Soldaten in Kostümen der letzten Jahrhunderte, mit Panzern und Pferden und mit internationalen Gästen. Auch deutsche Soldaten waren letztes Jahr mit dabei. In Polen wird viel gefeiert. Nationalfeiertage, die zum Beispiel daran erinnern, dass Polen die erste Verfassund in Europa hatte. Auch wenn sie leider nie wirklich Wirkung zum Einsatz kam, weil Polen kurz darauf dreimal geteilt und besetzt wurde und erst nach dem zweiten Weltkrieg wieder zu einem eigenständigen Stadt wurde. Nicht für lange natürlich.
Jan und ich verstanden uns sehr gut. Wir hatten viel Spaß miteinander, unternahmen viel gemeinsam, meist zusammen mit den anderen. Wir machten uns übereinander lustig und versuchten immer uns gegenseitig zu veralbern.
Kurz vor Weihnachten erzählte mir Jan, dass er sich verliebt hatte. In wen, fragte ich ihn. In dich, sagte er. Es brauchte etliche Tage, bis ich im glaubte, dass dies kein Scherz war.
Das Jahr 2006 begann für Jan und mich gemeinsam. Offiziell waren wir ein Paar. Wir wussten beide, dass ich im Sommer wieder nach Deutschland zurückkehren würde, um dort mit dem Studium zu beginnen. Jan glaubte von Anfang an, dass wir es auch schaffen würden, nach dem Sommer zusammen zu bleiben. Ich nicht. Die Entfernung würde doch zu groß sein.
Aber die Zeit bis dahin wollte ich genießen. Mit Jan. Und vor allem auch in Warschau.
Jan ist Pole. Ein Pole der alten Schule. Jede Tür hielt er uns auf. In die Straßenbahn ließ er uns zuerst einsteigen und wenn eine alte Dame den Bus betrat, dann stand er selbstverständlich auf und bat ihr seinen Platz an. Am Anfang fand ich vor allem das Aufhalten der Türen sonderbar. Doch jetzt gefällt es mir. Ich hab mich daran gewöhnt. So sehr, dass es mir nach einiger Zeit in Polen schwer fiel, deutsche Männer nicht als unhöflich zu empfinden.
Das Café Polyester, in dem ich Jan kennen lernte, liegt in Warschaus Altstadt. Ich mag diesen Teil Warschaus besonders gerne. Es ist eine schöne Altstadt, wenn auch nicht sonderlich groß. Und alt ist sie auch nicht. Neunzig Prozent Warschaus wurden im zweiten Weltkrieg zerstört. Nach dem Krieg wurden viele kommunistische Blockbauten hochgezogen. Billig und schnell. Warschau hat damals wohl einiges von seinem Charme eingebüßt. Doch die Altstadt gibt es wieder. Sie wurde nach dem Krieg anhand von Bildern eines bekannten Malers wieder aufgebaut und ist somit erst 60 Jahre alt. Einem Laien wie mir fällt dies jedoch nicht auf.
Ich mag Warschau. Warschau hat viele schöne Seiten. Viele Parks. Warschau ist auch eine Stadt der Gegensätze. Genau wie Polen. Land und Stadt. Altmodisch und modern. Westlich und Östlich. Neue Hochhäuser neben alten kommunistischen Bauten. Warschau hat seinen ganz besonderen Charme.
Im August ging meine Zeit in Polen zu Ende. Ich war sehr traurig. Nicht nur wegen Jan. Denn in Polen, in Warschau, in Helenow hatte ich ein wunderschönes Jahr gehabt. Ich habe viel gesehen, erfahren, gelernt. Vor allem habe ich gerlernt, dass in Osteuropa natürlich nicht alles eines ist. Dass es natürlich auch in Polen McDonalds und H&M gibt. Dass Polen nicht so grau ist, wie man es sich immer vorstellt. Dass nicht alle Frauen wunderschön und nicht alle Männer Autodiebe sind. Denn in Polen sind es schließlich die Russen, die klauen.
Vor allem aber habe ich gelernt, mich in Polen zu verlieben. In das Polen. Die Polen. Den Polen.
Jan und ich haben beschlossen, nach meinem Jahr in Polen zu versuchen, trotz allem zusammen zu bleiben. Irgendwie würde es vielleicht klappen. 1000km Entfernung hin oder her. Wir wollten es versuchen.
Jan hat blaue Augen. Und dunkelblonde Haare. Sein Gesicht ist ein bisschen dreieckig. Slawisch. Doch das mag er gar nicht hören. Er ist Pole. Aber er ist auch Europäer. Ich bin froh, dass seine Mutter ihm den Namen „Jan“ gegeben hat. Jan ist international. Gut, das Jan nicht Zbigniew heißt. Das wäre schwieriger geworden.
Mit Jan unterhalte ich mich bis heute hauptsächlich auf Englisch. Auch wenn mein polnisch mittlerweile nach 2 Jahren Sprachkurs in Deutschland und meiner Zeit in Polen ganz gut geworden ist. Auch wenn er sich ganz gut auf Deutsch verständigen kann. Englisch ist die Sprache, in der wir uns kennen lernen durften. Englisch ist die Sprache, die ich nur deshalb so gut spreche, weil ich das Glück hatte vor meinem Jahr in Polen ein Jahr in England leben zu dürfen.
„Zakochaj sie w Warszawie“. Verlieb dich in Warschau. Warschau macht Werbung für sich. Überall steht es. Auf Schildern. Auf Plakaten. Auf Busen. In der Altstadt. Ich muss immer lächeln, wenn ich das sehe. Bei mir stimmt es. Sogar doppelt. Denn während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich in unserer Wohnung im Zentrum Warschaus. Ein Jahr haben Jan und ich, um auszuprobieren, ob unsere Beziehung auch den Alltag überlebt. Dann muss ich zurück. Mein Studium beenden. Und dann, mal schauen.
Vor fast 70 Jahren wäre unsere Beziehung nicht möglich gewesen. Heute ist sie möglich. Dank dem vereinten Europa. Die Grenzen sind offen. Reisen von einem Land ins andere sind unkomplizierter geworden. Und trotz vieler noch bestehender Vorurteile sind die Bewohner Europas doch offener geworden, für eine Liebe wie die unsere. Zwischen einem Polen und einer Deutschen. Eigentlich sind wir Nachbarn. Aber viele Jahre waren wir Feinde. Besatzer und Unterdrückte. Nicht nur einmal.
Er heißt Jan. Unsere Großväter wurden im selben Jahr geboren. 1929. Der Eine in einem kleinen Örtchen auf der schwäbischen Alb. Der Andere ebenfalls in einem kleinen Örtchen. In der zweiten Republik Polens. Der Erste hat nicht viel mitbekommen vom Krieg. Der Zweite hat noch heute Albträume. Ob sie sich wohl jemals begegnen werden?
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