Zum Kotzen?!
Den ganzen Tag Monopoly und Scrabble spielen, keine Arbeit, ausschlafen: Was für viele der Himmel auf Erden ist, ist für Hanna91 ein Graus. Denn ohne Arbeit und Stress wird sie einfach nicht glücklich!
Das Flugzeug knattert verdächtig laut, als die Motoren starten. Ist es eigentlich normal, das die Flügel so sehr zittern? Zum Glück sitze ich direkt neben dem Notausgang. Ich krame in dem Beutel, der an dem Sitz vor mir befestigt ist, und finde zwischen einer Kotztüte (unbenutzt) und dem Flugzeugmagazin die Sicherheitsinformationen.
Ich überprüfe, ob sich wirklich eine Schwimmweste unter meinem Sitz befindet. Sicherheitshalber. Ich versuche mit meinen zugegebenermaßen dürftigen Geographiekenntnissen zu rekonstruieren, ob man auf dem Weg nach Irland nicht überwiegend über Land fliegen müsste.
Mit einem sehr mulmigen Gefühl im Bauch versuche ich mir einzureden, dass die Flugweste auch sicher meinen Sturz abpolstert, wenn einer der Motoren über Land aussetzt und ich aus dem Notausgang springen muss.
Und wenn ich bei einer Notlandung in einem verlassenen, einsamen Wald, wenn einer der Flügel abbricht, die einzige Überlebende bin, kann ich mit der Trillerpfeife an der Schwimmweste versuchen, ein hilfsbereites Wildschwein anzulocken.
Nicht, dass ich Flugangst hätte.
Die Häuser werden immer kleiner. Frankfurt, die schönste Stadt der Welt, verschwindet immer schneller in weißer Watte.
Ich fliege nicht das erste Mal nach Dublin, schon vor drei Wochen saß ich in einem Flugzeug nach Irland, um dort im Rahmen eines Europäischen Freiwilligendienstes für 10 Monate in einer kleinen Stadt nahe Dublin zu arbeiten, musste aber wegen einer Beerdigung kurzfristig für ein Wochenende zurück nach Frankfurt gehen.
Freunde habe ich dort bewusst nicht getroffen, das hätte das Heimweh sicherlich nur verstärkt. Verwandte aber natürlich schon und die haben selbstverständlich alle die selbe Frage gestellt: "Wie isses so da drüben???" Meine Antwort: "Ich weiß nicht so genau, wie ich es finde."
Eigentlich ist alles perfekt. Meine Gastfamilie ist nett. Der Leiter des Jugendzentrums ist nett. Die Jugendlichen sind keine gewaltbereiten Halbkriminellen, sondern größtenteils wohlerzogene Schulkinder. Und ich werde nicht ausgenutzt, mein Europäischer Freiwilligendienst wird nicht missbraucht, um eine Arbeitskraft zu ersetzen und ich muss keine schwere Arbeit leisten.
Und genau das ist mein Problem. Es ist nämlich nicht nur so, dass ich keine schwere Arbeit leisten muss. Ich muss überhaupt keine Arbeit leisten. Meistens sitze ich nur mit den irischen Freiwilligen auf dem Sofa und rede (beziehungsweise versuche, bei ihrem schnellen Englisch mitzukommen). Oder spiele mit den Jugendlichen Monopoly. Oder Scrabble.
Kaum Arbeit? Hört sich doch toll an! Nein, nicht für mich. Ich habe in der Schule 5 Fächer freiwillig zusätzlich belegt, obwohl ich sie teilweise noch nicht mal in mein Abi einbringen konnte. In den Ferien an der Uni gearbeitet. In meiner Freizeit freiwillige Arbeit verrichtet. Im Theater gearbeitet.
Mir wurde schon prophezeit, dass ich mit spätestens 25 an Burn-out erkranken werde, aber das ist mir egal: Arbeit macht einen wichtigen Teil meines Lebens aus (natürlich gibt es auch andere wichtige Teile, die ebenfalls unverzichtbar für mich sind), ein Teil, der gefüllt werden muss und ein Teil, der mich einfach glücklich macht.
Und keine Arbeit zu haben, heißt dementsprechend für mich, auf lange Sicht ziemlich unglücklich zu sein. Wie soll ich denn nur 10 ganze Monate aushalten, ohne etwas zu tun zu haben??? Ich beschließe, dass es so wirklich nicht weiter gehen kann.
Aber was tun? Abbrechen? Ich kann ja noch nicht mal ein Buch abbrechen, bevor ich es zu Ende gelesen habe, gleichgültig, wie es mir gefällt. Also werde ich erst mal mit meinem Betreuer reden, bevor ich mir überlege, was es für Alternativen gibt .
Säuberlich notiere ich mir meine Problempunkte auf der Kotztüte, um für ein Gespräch vorbereitet zu sein, dann vertiefe ich mich wieder in die Sicherheitsinformationen, in der Hoffnung, eine Antwort auf meine Frage zu finden, was zu tun ist, wenn zum Knattern des Flugzeugmotors ein unregelmäßiges Motorhusten kommt (die Stewardess wusste keine Antwort auf die Frage, verbot mir aber, die Schwimmweste noch einmal zu inspizieren (außer wenn das Flugzeug abstürzt)).
Bald durchbrechen wir wieder die Wolkendecke und unter mir erscheint – natürlich unter Regen – Dublin, die zugegebenermaßen zweitschönste Stadt der Welt.
Das Flugzeug rutscht die klatschnasse Landebahn entlang und kommt erstaunlicherweise vor dem Wald zum stehen. Als das Blut zurück in meinem Kopf fließt (es war in Angst vor Aquaplaning und meinem daraus resultierenden baldigen, qualvollen Tod damit beschäftigt, meine Eingeweide zusammen zu ziehen (ich bereute es sehr, die Kotztüte als Notizzettel missbraucht zu haben) und mein Herz zum 200-Schläge-pro-Minute-Takt anzutreiben) dachte ich "Endlich zu Hause!" Obwohl ich gleichzeitig mein anderes Zuhause vermisse…
Endlich raus aus dem Flugzeug, wieder rein ins Flugzeug, weil ich meine Notizkotztüte vergessen habe, dann endlich, endlich wieder raus, endlich wieder festen Boden unter den Füßen, rein in den Bus (neben dem Mann, der eine Reihe hinter mir saß und einen äußerst lauten, festen Husten hat. Ach so. Hat sich aber echt wie ein Motor angehört), rein in den Flughafen, Pass zeigen, vorm falschen Gepäckband warten, vorm richtigen Gepäckband warten, Gepäck endlich finden (!!!), endlich raus aus dem Flughafen, rein in den Bus, raus aus dem Bus, zu Hause…
Freudiges Hallo, dann schnell rein ins Bett, raus aus dem Bett und ab ins Jugendzentrum (mit der Kotztüte in der Hosentasche).
Das übliche Monopoly- und Scrabblespielen beginnt wieder, doch die harten Kanten der Kotztüte, die mich in meiner Hosentasche immer wieder in meinen Po piksen, erinnern mich daran, dass ich heute noch etwas zu erledigen habe.
Mein Betreuer fragt mich, ob wir Mittagessen wollen, und glücklich, eine Gesprächsmöglichkeit bekommen zu haben, bejahe ich das. Ich folge ihm in die Küche, vorbei an vertieft Schach spielenden Teenagern, vorbei an der Playstation, durch den Flur, vorbei an einem ruhigen Mädchen mit klaren, blauen Augen, die etwas zu suchen scheint.
Als wir in der Küche ankommen, versuche ich mich an die ersten Worte meines Zettels zu erinnern (mir erscheint es unpassend, in der Küche von einer Kotztüte abzulesen) und setze an: "Ehm, listen, I was thinking a lot when I was away…"
Die Tür knallt auf. "Do you know, where the dices are?"Das Mädchen aus dem Flur steht in der Tür und blickt meinen Betreuer fragend an.
Ich schaue in ihre stechenden, ununterbrochen nach Aufmerksamkeit heischenden Augen. Die Jugendlichen von heute, ständig brauchen sie Zuwendung, Hilfe, können sich nicht einmal mehr mit sich selbst beschäftigen!
Ich weiß natürlich, dass ich damit falsch liege, trotzdem ärgere ich mich still in mich hinein. Meine Gelegenheit ist futsch, bis mein Betreuer die Würfel gefunden hat, können Jahre vergangen sein…
Doch überraschenderweise knallt die Tür sofort wieder auf und mein Betreuer kommt hinein. Das ist meine Chance! Jetzt oder nie!
"I want work", fasse ich den Rest meiner Kotztüte schnell zusammen, bevor sich diese Gelegenheit auch noch in Luft auflöst.
Fragend schaut mich mein Betreuer an. Mmh, vielleicht sollte ich mein Problem noch ein bisschen besser ausformulieren…
Mein Betreuer hört mir nickend zu und erklärt mir dann, dass sich alles im September, wenn die Schule anfängt, ändern wird. Jetzt im Sommer habe es einfach keinen Sinn, große Projekte zu planen, weil die Jugendlichen zu großen Teilen verreist sind, Sommerjobs haben…
Aber schon bald fange die Vorbereitung für die Schulzeit an, außerdem stehe ja noch das Jugendleitertraining an, das vorbereitet werden muss. Dann zeigt er mir den Stundenplan, den wir während der Schulzeit einhalten. Ganz schön dicht, viele Aktionen, viel Planung!
Und er verspricht mir, dass ich sehr bald Stress und Druck haben werde und ich freue mich riesig darüber.
Als ich zurück in den Hauptraum gehe und die spielenden und quasselnden Jugendlichen sehe, wird mir noch etwas Anderes klar: Natürlich kommen die Jugendlichen wegen dem Billardtisch oder der Playstation hierher. Natürlich kommen sie auch wegen der Aktivitäten, die das Zentrum organisiert.
Vor allem kommen sie aber wegen den Menschen. Einfach, weil sie die anderen Jugendlichen mögen und weil sie die Jugendleiter mögen. Mit ihnen Monopoly zu spielen heißt, diese Beziehung zu pflegen, und trägt damit dazu bei, dass das Jugendzentrum am Leben bleibt.
Monopoly spielen ist also irgendwie auch Arbeit.
Wunderbare, sinnvolle Arbeit.
Arbeit, die einen Unterschied macht.
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