Zeit des Nachdenkens
meine letzten zwei Monate inklusive Weihnachten, Silvester und einer kleinen Reise
Gestern bin ich von einer kleinen Reise wiedergekommen und als ich den Bus vom Bahnhof nach Hause nehmen wollte, wurde ich unfreiwillig zurück in die Realität geholt: Es fuhr kein Bus, da die Manifestation noch immer im Gange war. Sogar noch am Abend. Hier wird seit Monaten jeden Samstag demonstriert. Gilets Jaunes.
Der Dezember war hart für mich. Nicht, weil die Franzosen so gut wie keinen Advent kennen. Nicht, weil der Weihnachtsmarkt aus ganzen acht Ständen besteht. Nicht, weil es so dunkel, kalt und regnerisch war und ich den Schnee doch so schrecklich vermisse. Nicht, weil ich von verliebten Paaren umringt war. Nicht, weil ich zur Weihnachtszeit hier geblieben bin. Nicht weil mir die Arbeit über den Kopf gewachsen ist. Okay, vielleicht haben all diese Dinge Einfluss auf meinen Zustand genommen. Aber schlicht, weil ich Wesentliches in mir erkannt habe und es Zeit für eine Veränderung war. In dieser Zeit habe ich viel über mein Leben nachgedacht und alles hinterfragt. Ich denke, es war das bekannte Tief, das auch als Kulturschock bezeichnet wird.
Ich bereue es nicht, über Weihnachten hier geblieben zu sein. Auch wenn jeder sich wundert, wenn ich sage, dass ich hierbleibe über die Feiertage. „Ah, du hast Freunde hier?“ So unblaublich unfassbar, wie ein erwachsenes Kind mit 19 doch nur in einem für ihm fremdes Land ohne Familie bleiben kann. Dann wird direkt daraus geschlossen, dass man Freunde hätte. Niemand, aber wirklich niemand denkt daran, dass man auch mal ein Fest alleine feiern kann oder man mal neue Leute kennenlernt anstatt über all die Jahre immer mit den alten bekannten Gesichtern verbringt. Ich habe mich dem gestellt und immer freundlich lächelnd geantwortet, dass ich hier nicht alleine bin, meine Mitbewohner hier sind und ich bei einer bretonnischen Familie eingeladen bin. Ah, das passt dann wieder in ihr Schema, damit können sie was anfangen. Aber ich, ich habe dieses einseitige Denken gehasst!
Und es war schön. Kurz vor Toreschluss kamen meine Mitbewohnerinnen mit einem Tannenbaum und allerlei Weihnachtsdekoration nach Hause, den sie in einem Second Hand Laden gefunden haben. Ich war krank und konnte somit nicht beim Einkauf dabei sein. Aber als wir dann am 22. Abends alle zusammen den Baum geschmückt haben, kam die Weihnachtsstimmung in mir auf. Auch wenn es ein komplett anderes Weihnachten war, als ich es bisher kannte. Heilig Abend habe ich mit meinen Mitbewohnern gekocht, gegessen und wir sind in die Messe gegangen, wo die mir bekannten Weihnachtslieder eine Erinnerung an all die bisher zelebrierten Weihnachten meines Lebens geweckt haben. Dann haben wir in Ruhe im Schein der vielen Kerzen und unseres "interkulturellen Tannenbaumes" die Geburtsstunde abgewartet. Den Weihnachtstag selber habe ich mit einer Familie verbracht, die sich in meiner koordinierenden Organisaition engagiert. Ich habe also ein französisches Weihnachten mitbekommen, welches mit einem Spaziergang am Meer abgerundet wurde. Der 26. ist hier tatsächlich kein Feiertag mehr, das hieß für mich Arbeit. Zu Mittag sind wir noch zum Essen zu einer Arbeitskollegin meiner Mitbewohnerin nach Hause eingeladen worden.
Zwischen den Jahren habe ich auf einem Straßenfestival gearbeitet, da meine Arbeitsstelle dieses Event organisiert. So konnte ich auch viele der Spektakel mit Feuershow, Zirkus, Gesang und Tanz miterleben, was allerdings in der eisigen Kälte nicht nur ein Vergnügen war. Als ich eines Nachmittags mit orangener (!) Weste eine Straße sperren musste, wurde ich sogar gefagt, ob die Bewegung nun die Farbe gewechselt hätte, also von gelb nach orange. Also back to reality! Auf die Bewegung möchte ich jetzt nicht näher eingehen, da ich mich auf die positiven Dinge konzentriere. Klar ist allerdings, dass die Bewegung unzählige Male meinen Alltag beeinflusst hat.
Für Silvester wollte ich irgendwas Cooles machen. Nur ohne Leute ist das etwas einsam. Ich habe wirklich jeden jungen Menschen, den ich hier kenne, gefragt, aber alle waren selbst weg. Somit habe ich dann mit meiner einen Mitbewohnerin und ihrem Freund gegessen, auf der Couch Wein und Cidre genossen und um kurz vor Mitternacht sind wir dann aufgebrochen ins Stadtzentrum. Und dort war so gut wie nichts los. Noch nicht mal richtiges Feuerwerk. Aber in der Bar war dann doch einige Stimmung, die mich das neue Jahr willkommen ließ.
Nachdem ich auch zwischen den Jahren arbeiten musste, während die anderen Freiwilligen wie selbstverständlich frei bekamen, war ich reif für einen Ortswechsel. Also habe ich meine ersten Ferien dazu genutzt, ein bisschen die restliche Bretagne zu bereisen. Als es dann soweit war, hatte ich eigentlich keine große Lust mehr. Am Ende kann ich jedoch stolz sagen, drei bekannte Orte mit allen Sinnen (es war eiskalt) erfahren zu haben und zudem eine einzigartig inspirierende Begegnung mit einer Couchsurferin gemacht zu haben. Ich bin nämlich die vier Tage in Rennes gecouchsurft und wurde von marrokanischer Gastfreundschaft nur so umsorgt. Am letzten Tag sind wir dann drei Stunden einfach nur am Fluss entlang gelaufen und ich wir haben ein tiefes Gespräch über Lebensveränderung geführt. Das erstaunlischste über die Hauptsadt der Bretagne ist für mich ganz simpel die Bevölkerung: Auf den Straßen sind so viele junge Menschen! Der Anblick war zugleich komisch als auch ermutigend, da die Staßen in meiner Stadt hauptsächlich mit Gehstock und Büscheln weißer Haare gesäumt sind. Dann habe ich den beeindruckenden Mont-Saint-Michel besichtigt und in Saint-Malo das von der Sonne heerlich glitzernde Meer genossen. Und ich kann nicht sagen, wie viele Kathedralen ich in den letzten Tagen betreten habe, aber jede beeindruckt mich aufs Neue. Die kurze Auszeit hat mir ein bisschen Abstand verschafft und mir gezeigt, dass ich auch zukünftig alleine Frankreich bereisen möchte.
Morgen geht es wieder auf zur Arbeit und neuen Projekten!
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