Wer hätte es gedacht?
Ich hatte mit vielen Veränderungen gerechnet, aber nicht mit dieser.
Vor eineinhalb Jahren sah ich auf der Internetseite meiner Universität die Beschreibung eines Austauschprogramms: Als Teaching Assistant in der Deutschen Abteilung und als Studentin an einer kleinen Privatuni in Michigan, Wohnen auf dem Campus, Vollstipendium. Bei der weiteren Recherche bekam ich das Gefühl, dass dieses Programm perfekt für mich sei. Was eine großartige Chance! Ich ließ mich an der Uni beraten und bewarb mich im Oktober 2019. Die Rückmeldung zu meinem Bewerbungsgespräch war positiv. Es hatte tatsächlich geklappt! Ich würde nächstes Jahr in den USA studieren.
Auf Empfehlung des internationalen Büros meiner Uni bewarb ich mich bei Fulbright für das Reisestipendium, das mit 2000€ sowohl Reise- als auch Nebenkosten auffangen soll. Auch dafür erhielt ich wenige Wochen später die Zusage. Was ein Glück!
Wenige Wochen später begann die Pandemie. Nachdem zuerst alle nach China geguckt hatten, verschob sich der Fokus bald auf Europa, dann Brasilien, USA und Indien. Die Fallzahlen stiegen und stiegen. Meine Gastuniversität hielt mich auf dem Laufenden und versprach die Entwicklungen zu beobachten und ihre Entscheidungen an der Sicherheit der Studierenden zu orientieren. Ich erhielt als internationale Studentin das Angebot, meinen Aufenthalt in den Winter zu verschieben. Ich entschied mich dagegen, da ich ein halbes Jahr für zu kurz hielt. Die zehn Monate wollte ich voll und ganz nutzen. Über Fulbright bekam ich währenddessen mit, wie immer mehr deutsche Studierende ihren Aufenthalt absagten bzw eine Absage von ihrer Gastuniversität erhielten. Durch die steigenden Fallzahlen und das schlechte Krisenmanagement in den USA drückten meine Hoffnungen. Bestimmt würde auch ich bald eine Absage erhalten. Und so fing ich langsam an, mich gedanklich damit auseinanderzusetzen, dass ich ggf. doch in Deutschland bleiben würde. Selber absagen wollte ich nicht, aber ich war mir sicher, dass eine Absage seitens der Gastuni bald kommen würde. Doch sie kam nicht.
Nach vielen Gesprächen und Überlegungen entschied ich mich vor ca. drei Monaten dafür, alles zu geben, um den Austausch möglich zu machen. Die Gastuni wollte mir das Auslandsstudium ermöglichen, ich hatte die Zusage für ein tolles Stipendienprogramm - diese Chance sollte ich nutzen. Diese Chance müsste ich nutzen! Also begann ich konkret zu planen und u.a. die Bewerbung für das Visum vorzubereiten. Die Wochen verstrichen, die Konsulate blieben geschlossen und es wurde immer unwahrscheinlicher, dass mein Plan wirklich aufgehen würde. Ende Juli erfuhr ich plötzlich, dass die Konsulate wieder anfingen würden, Visa für Austauschstudierende zu bearbeiten und ich nun theoretisch einreisen könnte. Ein paar Tage später konnte ich einen Termin beim Frankfurter Konsulat vereinbaren. Das war der Moment, auf den ich so lange gewartet hatte! Endlich waren die Aussichten wieder gut.
Als ich meiner Familie von den freudigen Neuigkeiten erzählte, war sie weniger erfreut. In den Nachrichten hörte man nur von Protesten, Polizeigewalt, widersprüchlichen Aussagen der Regierung, dem dynamischen Wahlkampf und den dystopischen Fall- und Todeszahlen in den USA. Das Land schien alles andere als sicher und stabil. Teilweise teilte ich die Sorgen meiner Familie. Die Sorgen, die ich nicht teilte, konnte ich nachvollziehen. Die Sorgen waren berechtigt. Mein Wunsch und meine Motivation hatten aber genau so viel Berechtigung und da meine Gastuniversität die Entwicklungen in ihren Plänen berücksichtigte, konnte meine Familie meine Entscheidung akzeptieren. Ich wollte in dieses Land.
Ich fuhr also zum Konsulat und beantragte mein Visum. Zum Schluss sagte der Mitarbeiter zu mir, ich könne mein Visum dann in fünf bis sieben Tagen abholen. Auf dem Weg zurück zum Bahnhof fing ich vor Freude fast an zu weinen. Nach all der Ungewissheit wusste ich nun, ich würde mein Visum tatsächlich bekommen und einreisen dürfen! Auf diese Information hatte ich gewartet. Ich kündigte mein Zimmer im Studierendenwohnheim, kündigte meinen Nebenjob, begann mein Hab und Gut in Kisten einzupacken. Ich kam in Kontakt mit meiner zukünftigen Zimmernachbarin und einem deutschen Arbeitskollegen. Wir verabredeten uns, um von Chicago gemeinsam zur Gastuniversität zu fahren. Ich bezahlte Krankenversicherungen, meldete meinen Wohnsitz ab, suchte einen Zwischenmieter, ließ mich impfen usw.....letzte Woche zog ich zum Übergang bei meinen Eltern ein. Ich verabschiedete mich von meiner WG und weiteren Freunden. Mein Koffer war gepackt.
Dann schrieb ich meinen (neuen) ersten Blogeintrag. Vielleicht zehn Minuten später sah ich den Eingang zweier E-Mails. Ich brauchte ein paar Sekunden, um den Inhalt zu verstehen. "Fully Virtual Fall Term". Der Präsident der Gastuni erklärte, dass die Uni sich schwerenherzens dazu entschieden hatte, den Campus im kommenden Trimester für die Studierenden nicht zu öffnen. Die Pandemie sei zu gefährlich. Ich hatte also keine Unterkunft, weder Unterricht noch Arbeit auf dem Campus - heißt: "Ich werde nicht einreisen und nicht wie geplant nächsten Dienstag in den Flieger steigen!" Sechs Tage vor Abflug! Ich war geschockt und wusste nicht, woran ich anfangen sollte zu denken. "Ich glaub' das nicht!" Alle Pläne zerbrochen, alle Abschiede umsonst, alle Mühen vergebens. Die Möglichkeit, auf die ich solange hingearbeitet hatte, für die ich so viel Unterstützung erhalten hatte, weg.
Ich werde also in Deutschland bleiben. Ob ich von hier aus an Online-Veranstaltungen der Gastuni teilnehmen kann und wann der Campus wieder öffnet, ist unklar. Erst einmal werde ich die Beurlaubung an meiner deutschen Uni zurückziehen und mich hier für Kurse einschreiben. Nun heißt es wieder: Prioritäten setzen, abwarten, überlegen und Informationen einholen. Mal sehen, was dieses Jahr noch passiert.
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