Wenn die Universität besetzt ist: Mein Protokoll der studentischen Proteste
Das historische Universitätsgebäude der Fakultät Victoire der Universität Bordeaux ist besetzt. Die Studierenden protestieren gegen die am 8. März in Kraft getretene Loi Vidal, eine Reform, die den Zugang zur Universität neu regeln soll. Wie ich die Besetzung erlebe: Ein Protokoll.
Ausnahmezustand und Aufruhen: Die Studierenden haben die Universität in Besitz genommen, die Türen bleiben geschlossen, die Kurse fallen aus. Seit fast einem Monat habe ich keine regulären Kurse mehr, dafür aber jede Menge Freizeit und Ungewissheit. Es ist eine Zeit, in der ich zunächst zu verstehen versuche, was passiert und warum eigentlich protestiert wird. Als Erasmus-Studentin habe ich einen Blick, der sich von außen auf die Ereignisse richtet - und das kann in Zeiten der Aufruhen eine wertvolle Perspektive sein.
Was bisher geschah: Ein Protokoll
Donnerstag, 1. März 2018
Erste Besetzung (fr. blocus) des Universitätsgebäudes Victoire. Die Türen sind mit Stühlen, Tischen und Mülltonnen versperrt. Vor dem Haupteingang demonstriert die AG der Studierenden gegen die Loi Vidal und die geplant Selection. Die Polizei ist präsent. Richtig ernst nimmt die Aktion niemand. Der Zugang in den Universitätsbau ist durch eine Seitentür und Vorzeigen der Studierendenkarte möglich. Am Nachmittag löst sich die Blockade auf, trotzdem fallen alle Kurse aus. Einige Anthropologie -Studierende beschließen die Besetzung im Kurs mit den anderen Studierenden zu diskutieren.
Dienstag, 6. März 2018
Wiederaufnahme des blocus, der diesmal bis in die Nacht fortgeführt wird. Am Vormittag haben die Anthropologie-Studierenden Arbeitsgruppen gegründet, um sich tiefgehend mit der Loi Vidal zu beschäftigen. Ziel ist es eine konstruktive Diskussion anzustoßen. Die Studierenden der AG besetzten das Amphitheater Gintrac. Die Polizei ist präsent, der Zugang zur Universität ist dennoch möglich. Am Abend ordnet der Präsident der Universität die polizeiliche Räumung des Amphitheaters an. Es gibt Verletzte. Ein Aufschrei geht durch die sozilaen Netzwerke. In der Grupper der Anthropologie- Studierenden werden Bilder der Verletzten Studierenden geposted.
Mittwoch, 7. März 2018
Der Präsident der Universität schließt die Universitätsgebäude Victoire aufgrund der Ereignisse des Vorabends. Alle Kurse sind gestrichen, die Gebäude bleiben geschlossen.
Donnerstag, 8. März 2018
Die Gebäude werden wieder geöffnet, der universitäre Betrieb läuft normal weiter. Ohne eine gültige Studierendenkarte besteht kein Zutritt zum Gebäude. Auf Anordnung der Direktorin der Fakultät Victoire findet am Morgen eine Versammlung der Studierenden und Lehrenden statt, um über die Ereignisse des 6. März zu sprechen. Die AG der Studierenden entscheidet das Amphitheater Gintrac nun vollständig zu besetzen.
Donnerstag, 15. März 2018
Die AG der Studierenden hat nun das gesamte Gebäude der Fakultät Victoire besetzt. Die Eingangstüren sind mit Paletten, Stühlen und Mülltonnen versperrt. Am Abend stimmt die AG über eine Besetzung auf unbestimmte Dauer ab. Die Direktion der Universität Victoire fordert die Studierenden auf, am nächsten Tag zu Hause zu bleiben.
Freitag, 16. März 2018
Die Universität ist nun vollständig besetzt. Alle Kurse sind bis auf weiteres gestrichen. Der Zugang zum Gebäude ist über eine Tür am Haupteingang möglich. Die Bibliothek und die Vorlesungssälle bleiben jedoch geschlossen. Die Studierenden der AG übernachten im Gebäude. An der Fassade werden Plakate aufgehängt, in der Halle werden Sofas aufgestellt, im Amphitheatre finden Workshops statt. Die AG ruft zu einer offenen und freundlichen Besetzung auf.
Mittwoch, 20. März
Die Direktion der Universität Victoire ruft zu einer Informationsversammlung am Vormittag auf. Mehr als 600 Studierende sind vor Ort. Die Universität bleibt besetzt. Der normale Universitätsbetrieb kann nicht wiederaufgenommen werden. Die Direktorin verweist auf eine alternative Gestaltung der Kurse, die von nun an entweder in anderen Gebäuden weit außerhalb oder online stattfinden sollen. Gegen Mittag findet eine Abstimmung über das weitere Vorgehen mit allen Studierenden statt. Am Abend wird die Entscheidung getroffen die Besetzung fortzusetzen.
Donnerstag, 22. März
Die Universität bleibt besetzt. Am Mittag findet eine große Demonstration gegen die Politik des Präsidenten Emmanuel Macron unter Beteiligung zahlreicher Studierender statt. Die Direktion verfasst eine offene Email in der sie die Studierenden, die das Gebäude besetzten auffordert alle Türen zu öffnen.
Aussenvor oder mittendrin? Meine Sicht auf die Ereignisse
Zu Beginn nehme ich die Proteste gegen die Reformen der Regierung Macron gar nicht richtig ernst. Ein Tag Blockade, ein Tag keine Uni. Spannend, denke ich, die studentische Bewegung, die sich hier formiert so hautnah miterleben zu könnnen. Dann räumt die Polizei die Universität und Studierende werden verletzt. Und plötzlich geht es nicht mehr um ein paar Studierende, die mal wieder protestieren, sondern um die große Frage nach Macht und Mitbestimmung, die dort zwischen den Plakaten un Protestflyern gegen die Selektion weht. Hinter der Kritik an der Loi Vidal steckt eine grundsätzliche Unzufriedenheit. Eine Unzufriedenheit mit dem System, der Kommunikation und der Mitbestimmungsrechte an der Universität. Und zugleich verbirgt sich dahinter die Idee mit der Kraft der Masse etwas Großes bewirken zu können, eine Revolution, wie in den 68er Jahren, die in diesem Jahr ihr Jubiläum feiert.
Es ist ein Protest, der von einer kleinen Gruppe geführt wird. Einer Gruppe, die im Laufe der Ereignisse immer mehr an Sympathisanten gewinnt und zur gleichen Zeit heftig kritisiert wird - vor allem aus den eigenen Reihen. Es sind die Studierenden selbst, die sich gegen die Blockade wenden, weil sie weiter ihre Kurse besuchen wollen oder sich andere Methoden wünschen, um gegen die Selection vorzugehen. Methoden, die weniger radikal sind und die den jetztigen Studierenden erlauben ganz normal zur Uni zu gehen und zu lernen.
Mittendrin stehe ich. Mich zu positionieren, fällt schwer und ist vielleicht auch gar nicht notwendig. Mir persönlich macht der konstante Ausfall der Kurse zu schaffen: Mein Alltag hat keine Struktur mehr, akademisch tappe ich auf der Stelle. Trotzdem sehe ich, wie wichtig es ist, diesen Protest zu hören und mitzuerleben: Denn was hier passiert, ist das Streben der Studierenden nach Mitgestaltung zwischen den Grenzen gesellschaftlicher Machtsysteme und institutioneller Mauern - oder kurz: Politik.
Weitere Beiträge
- Bordeaux und der Sklavenhandel: Die dunkle Vergangenheit der Handelsstadt
- Vier grüne Parks, die das Leben in Bordeaux besser machen
- Was eine Schale Linsen mit Solidarität zu tun hat
- Noch einmal ankommen oder: Bordeaux 2.0
- Zwischen Styroporlebkuchen und Konsumwahnsinn: Zu Besuch in der Weihnachtshauptstadt Straßburg: