Welcome to Latvia!
Ich glaube, nichts würde meine ersten zwei Wochen hier in Lettland besser beschreiben als diese drei Worte. Warum? Lest selbst!
Aber erstmal von Anfang an: Hi, ich bin Lena und für die nächsten zehn Monate Freiwillige des Europäischen Solidaritätskorps in Preili, einer kleinen Stadt im Südosten von Lettland. Wie alle Personen, denen ich von meinem Entschluss, für zehn Monate in Lettland zu leben, erzählt habe, fragt ihr euch wahrscheinlich: Wie kommt man auf die verrückte Idee, freiwillig in so ein kaltes Land in den Osten von Europa zu ziehen? Manche meiner Verwandten konnten es gar nicht fassen und wollten sich selbst nach einigen Tagen nochmal vergewissern: "Du gehst jetzt echt da nach Estland?" "Ja genau, nach Lettland!"
Für mich war nach meinem Abi 2020 klar, dass ich ins Ausland möchte, um etwas Spannendes zu erleben, bevor das Studium anfängt. Allerdings durchkreuzte die Pandemie erfolgreich meine Pläne und plötzlich stand schon wieder der September vor der Tür und ich hatte keine Ahnung, was ich machen sollte. Mehr durch Zufall und Glück (und meine Mama) bekam ich Wind vom ESK und so begann ich, die Internetseite nach verfügbaren und für mich in Frage kommenden Projekten zu durchforsten – und ich wurde fündig: Preili Free School, Latvia. Meine Kriterien (außerhalb von Deutschland, fremde Sprache, was mit Kindern, eigenes Zimmer) wurden erfüllt und somit stand einer Bewerbung und einem Gespräch mit der Koordinatorin des Projekts nichts im Wege. Aber sollte ich wirklich alleine in dieses ferne, kalte Land in den Osten reisen? Meine Neugier siegte und damit stand es fest, dass ich knapp vier Wochen später nach Lettland fliegen würde. In den folgenden Wochen hatte ich meinen Spaß, die Menschen in meinem Umfeld mit meinen Zukunftsplänen wahrhaftig zu schockieren und musste mir gleichzeitig mehrere Warnungen von verschiedenen Seiten anhören. Mein persönlicher Favorit war dabei die Warnung meines Tennistrainers, dass ich ja auf meine Organe aufpassen soll, weil jungen Frauen in Lettland oft die Niere heimlich von der gefährlichsten Mafia Europas herausoperiert wird. Ich kann alle beruhigen: Soweit ich das beurteilen kann, sind bisher alle meine Körperteile – sowohl innen als auch außen – noch vorhanden.
Am 14. Oktober war es endlich soweit. Um 6 Uhr morgens verabschiedete ich mich von meiner Familie und meinen Hunden und fuhr mit meinem Papa und meinen zwei sehr schweren Koffern (ich hatte meine gesamte Kleidung in Plastikbeutel einvakuumiert und die Koffer waren trotzdem bis zum Rand gefüllt) zum Flughafen München. Zur Abwechslung lief sowohl der Check-In, die Kofferabgabe und die Sicherheitskontrolle glatt und ich erreichte das Gate G06, das natürlich ganz am anderen Ende des Terminals lag, nach einem kleinen Spaziergang durch den gesamten Flughafen. Vielleicht hätte mich der fehlende Boardingaufruf für die Erste Klasse der BalticAir vorwarnen sollen, dass ich das Flugzeug weniger als halbleer vorfinden würde, aber nach den erstaunten Blicken meiner ungefähr 30 Mitreisenden zu urteilen, hat niemand mit mehr freien als belegten Reihen gerechnet. So konnte sich jeder Fluggast nicht nur für einen Sitz, sondern gleich für eine Reihe entscheiden, da nur ganz vorne und ganz hinten im Flugzeug vereinzelt Passagiere saßen. In dieser ruhigen Atmosphäre ließ es sich prima schlafen (was ein anderer Fluggast weiter hinten im Flugzeug wunderbar bewies, da er es sich über seine drei Sitze bequem machte) und ich war fast schon traurig, als der Pilot nach zweieinhalb Stunden in der Luft die Landung bekannt gab. Beim Landeanflug konnten wir dank des wundervollen Wetters die spektakuläre Sicht auf die Küste von Lettland genießen, womit uns das Land wohl mitteilen wollte: "Welcome to Latvia!"
Die ersten zwei Tage verbrachte ich bei meiner Mentorin in Riga und bekam dadurch die Chance, diese abwechslungsreiche Stadt zu besichtigen. Das heißt in meinem Fall ohne Plan und auf gut Glück durch die Stadt zu laufen und im Nachhinein herauszufinden, was das eigentlich für ein Gebäude war, von dem man ein Foto gemacht hat. Aber Spaß beiseite: Riga ist eine wirklich tolle Stadt und ich rate allen dringendst, Riga zu besuchen, um in der Bäckerei Bezē den besten Schokoladenkuchen, den ich je gegessen habe, zu probieren – ich kann seither nicht mehr aufhören, an diesen zu denken! Freitagabend wurde ich im strömenden Regen vom Sportlehrer der Schule, in der ich arbeiten würde, abgeholt und wir sind in seinem Auto immer auf derselben und einzigen Straße in Richtung Südosten gefahren. Nach einer dreistündigen Autofahrt, die sich durch unsere Unterhaltung über alle Sportarten der Welt wie eine anfühlte, deutete der Sportlehrer nach vorne in die schwarze Finsternis und sagte: "Welcome to the Preili!"
Tja, es stellt sich heraus, dass hier mehr als zwei Maxima (eine lettische Supermarktkette), eine Minimall, eine große Bushaltestelle, zwei Kirchen, ein Friedhof, zwei Schulen und sehr vielen streunenden Katzen nicht zu sehen ist. Der ganze Stolz der Bewohner des kleinen Städtchens ist der Park, der der zweitgrößte in ganz Lettland ist, und in dem sich ein kleines Schloss befindet. Falls ihr euch wie ich fragt, ob es hier eine Bar, einen Club oder generell etwas für junge Menschen gibt, bekommt ihr von jungen Letten mit einem Kopfschütteln meist grinsend zu hören: "Welcome to the Preili!"
Allerdings merkte ich während meines online on-arrival Seminars, dass "Welcome to the Preili“ auf alle Einsatzstellen außerhalb von Riga zutraf, da die meisten Freiwilligen Ähnliches berichteten. Außerdem stellte sich heraus, dass es in Lettland einen erneuten Lockdown bis Mitte November geben würde und somit alle Geschäfte und Restaurants schließen müssten. Nachdem ich dachte, dass es mit dem bevorstehenden Lockdown nicht mehr schlimmer kommen könnte, wurde ich vom Gegenteil überzeugt: Donnerstagabend, nach meinem ersten (und bisher einzigen) Arbeitstag im Kindergarten, bekamen meine Mitbewohnerin und ich die Nachricht, dass alle Personen, die diese Woche den Kindergarten besucht hatten, sich ab sofort für eine Woche in Quarantäne begeben müssten. Ich bin also mittlerweile seit mehr als zwei Wochen in Lettland und habe davon die Hälfte der Zeit in Quarantäne verbracht, nachdem ich einen Tag in meinem Projekt arbeiten konnte. Da sage ich nur eins: "Welcome to Latvia!"