We are the champions.
Cookies of hope.
Ich weiß nicht. Ich weiß es einfach nicht. Ohne mein Tagebuch würde ich nicht wissen, was seit Mittwochmorgen, 9. November, genau passiert ist, denn seitdem ist mein Kopf auf Standby. Und zum ersten Mal in meinem Leben habe ich nicht das Bedürfnis, zu kommentieren. Aus Sprachlosigkeit.
Ich kann keine neue Perspektive auf die Situation bieten, die noch nicht genannt wurde - ich kann meine Gedanken nicht einmal ausreichend sammeln, um mehr zu tun als vor mich hin zu stammeln. Wenn ich eine Minute nicht an die uns nun bevorstehende Zukunft denke, kommt es doch sofort zurück und ich werde kurzzeitig blind. So viel Mitleid und Angst überall, und Fragen, die ich mir mit siebzehn nicht stellen sollte. War es so ähnlich, als die Mehrheit 1933 demokratisch und freiwillig Hitler wählte? Sollte ich mein Regenbogenarmband zu meiner eigenen Sicherheit abnehmen? Wie viele Generationen Menschheit wird uns die Erde mit der kommenden Klimapolitik noch erlauben? Noch nicht einmal „werden Menschen sterben“, sondern - „Wie viele werden sterben?“.
Nein, danke. Was kommt, wird kommen, und wir werden es mit gefletschten Zähnen bekämpfen, aber ich muss es jetzt kurz vergessen. Deswegen möchte ich nur von den schönen Dingen berichten, die in dieser Woche geschehen sind.
- Ich bin zurück in Cluj. Es fühlt sich ehrlich wie eine zweite Heimat an. Als ich Sonntag den Bus vom Flughafen zurücknahm und aus dem Fenster sah, konnte ich nicht anders, als zu lächeln.
- Ich habe ein paar meiner Freunde wiedergesehen! Sonntagabend habe ich aller Müdigkeit getrotzt und nahm den Bus zu Gagyi. Sie hatte noch Reste von ihrer Einweihungsparty, Kartoffeln, Kürbis und eine rote Paste, die so salzig war, dass sie mir gefühlt ein Loch in die Zunge brannte. Ich verbringe wirklich gern Zeit mit ihr.
- Aber vor allem habe ich die Kinder wieder gesehen. Alle hatten ein wenig längere Haare, konnten ein paar weitere Wörter und, oh mann, habe ich sie mittlerweile ins Herz geschlossen. Sogar die stressigsten.
- Tudor, der neun Monate alte Junge, schaffte es zum ersten Mal, allein zu stehen! Er lehnte dabei gegen meine Beine und sein Gesicht leuchtete vor Stolz. Jetzt ist er ganz eifrig und will die ganze Zeit laufen üben.
- Juliana und ich sind nach den Ferien hochmotiviert, unserer Gruppe langsam ein richtiges Programm zu bieten. Ich werde einmal die Woche meine Gitarre mitbringen, ein weiterer Wochentag wird Basteln, Malen und künstlerischer Förderung gewidmet sein, und das ist nur das Minimum. Wir haben so viele Ideen!
- Mittwoch brachte ich selbstgemachte, essbare Fingerfarben mit in den Kindergarten. Manche Kinder experimentierten zaghaft damit herum, manche mochten es gern, manche hatten Angst vor dem glibberigen Gefühl auf der Haut – und dann war da Anna. Die ihr ganzes Blatt und auch sich selbst zentimeterdick mit Farbe beschmierte, ununterbrochen laut lachte vor Freude und noch als allerletzte mit den Farben am Tisch sitzen blieb. Habe ich erwähnt, dass Annas Gelächter die coolste Sache der Welt ist? Sie kennt kein Limit!
- Ich werde bald Englischunterricht geben. Wurde dafür ganz spontan hergeholt. Ich weiß noch nicht genau, wie es funktionieren wird, aber das ist ja jetzt erstmal zweitrangig.
- Petrus Mutter schrie laut auf vor Freude, als sie sah, dass ich zurück bin. Dann umarmte sie mich ganz lang und lud mich nach Weihnachten zum Abendessen in der Familie ein – „after all, you're Petru's Lena!“. Petru läuft mir immer noch jeden Morgen mit strahlendem Gesicht und dem Ausruf „Gagi!“ in die Arme.
- Floris hat meinen Namen gelernt. Und lässt es sich auch nicht nehmen, mich jetzt alle fünf Sekunden zu rufen, um mir irgendwas zu zeigen. Tassi hat ihn auch gelernt und kann damit ein wenig mehr anfangen, da er als Einziger schon Sätze sprechen kann. Bogdi hat ihn gelernt, natürlich, er ist sehr schlau, und Dora kann ihn ja schon seit Ewigkeiten.
- Wir haben St. Martinstag gefeiert... das war vielleicht süß. Es gab Tee und Butterbrote, die Musiklehrerin war mit ihrer Gitarre da und alle Kinder bekamen kleine Lampen. Und nachdem Simone mir versicherte, dass sie keine Angst vor Schildkröten hat, antwortete sie auf mein „Je t'aime“ mit „Oui, oui, je t'aime aussi“.
- Ich hatte endlich mal wieder Zeit und Energie, mit meiner Mutter zu skypen.
- Betti ist zurück! Zur Erinnerung, sie ist eine von den drei Freiwilligen aus Ungarn, die im November hier waren.Sie kam einfach durchs Tor spaziert, mann, war ich von den Socken! Scheinbar bleibt sie bis Ende des Monats zu Besuch!
- Nächste Woche geht das Gay Film Festival los. Trotz aller Widrigkeiten. Beim letzten Treffen kam ich mit jemandem ins Gespräch, der mir von der letzten Pride Parade in Cluj erzählte, auf der Anhänger der Kirche die Straßen scheinbar hinterher mit Weihwasser spülten. Nein, ich will wirklich nicht nochmal politisch in diesem Artikel werden, aber es lässt sich nicht ganz vermeiden – und es ist auch schwer zu erklären. Schon an einem normalen Tag bedeutet die Existenz des Festivals viel. Aber jetzt ist sie unbezahlbar heilend. Und ich darf es unterstützen!
- Dienstagabend verteilte ich dafür Plakate in diversen Bars der Stadt, und der Barkeeper der Booha Bar hängte es extra hoch auf, damit es nicht beschmiert oder abgerissen wird. Dann spendierte er mir ein Bier.
- Ich war endlich mal wieder auf dem Flohmarkt, und selbst im Regen ist das irgendwie ein Erlebnis. Nun bin ich stolze Besitzerin eines Föhns, einer Lampe und ganz viel Spielzeug, um damit einen Adventskalender für meine Gruppe zu basteln.
- Habt ihr je von diesem Vodka in Trinkpäckchen gehört, der scheinbar in Rumänien verkauft wird? Johanna und ich haben versucht, ihn zu kriegen, und... meine Güte! Nach langer Recherche habe ich rausgefunden, wo die Firma scheinbar liefert, also nahmen wir einen Bus dahin – es war die letzte Bushaltestelle der einzigen Linie, die in die Gegend fuhr. Es gab nichtmal Straßen! Nur einsame Bahnschienen und einen matschigen Landweg in einem beängstigend stillen Industriegebiet, nur durchbrochen vom Gebell der streunenden, großen Hunde. Die uns echt Angst einjagten, besonders wenn sie uns folgten! Der Ort, an dem die Firma angeblich liefern sollte, war nichts weiter als ein Matschloch. Bin ich froh, dass ich nicht einfach allein hingefahren bin.
- Freitagabend trafen wir ein paar Leute vom Seminar und Freunde auf einem Konzert wieder, in der Fabrica de Pensula. Ein altes Industriehaus, das sehr berühmt für seine Indiekonzerte ist – eigentlich wollte ich schon seit Wochen mal dahin, und das zurecht. Es ist einfach klasse! Überall liegen Sitzsäcke, die Leute hüpfen ungehemmt zur Musik rum, die Atmosphäre ist einfach angenehm.
- Ich bin Sonntag zu dichtem Schneetreiben aufgewacht.
- Die Kita hat paralympische Spiele veranstaltet. Viele Gruppen für Menschen mit diversen Behinderungen nahmen teil, und dann wurden ein paar Spiele gespielt. Am Ende liefen alle strahlend zu „We are the champions“ ein, und mir kamen die Tränen. Was für eine wunderschöne Veranstaltung. Besonders jetzt.
- Bald ist Weihnachten. Ich liebe Weihnachten so sehr!
- Kanye 2020.
- Ich bin hier. Es ist nicht immer perfekt, und es mag in Zukunft noch schlimmer kommen, aber gerade bin ich Europäische Freiwillige. Man vergisst so leicht, wie wunderschön das ist – wie wunderschön die EU ist, und wie glücklich wir uns schätzen können, damit aufgewachsen zu sein.
An dieses Privileg sollte man deutlich öfter denken.
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