Waaas ich bin schon 2 Monate hier?
Ein paar Reflexionen, Vorsätze und Erfahrungsberichte...
Ja, es ist wahr: gestern war es genau zwei Monate her, seit ich an einem trüben Sonntagabend von meinem Mentor am Flughafen von Belfast abgeholt und in meiner Isolationshütte abgesetzt wurde. Eine Zeitspanne, die mir gleichzeitig wie eine Ewigkeit und super kurz vorkommt. Zwar ertappe ich mich dabei, wie ich Neuankömmlinge herumführe und in das Freiwilligenleben einweise, als würde ich hier schon seit Jahren wohnen und auch die Residents sind einem in diesen paar Wochen schon so sehr ans Herz gewachsen, dass man sich sicher ist, dass man sie tatsächlich vermissen wird (von den anderen Freiwilligen mal gar nicht zu sprechen) aber wenn ich bedenke, dass genau genommen jetzt schon ein ganzes Viertel meines geplanten Aufenthalts vorbei ist, fragt ein Teil meines Gehirn schon "Häh wie kann das sein, du bist doch gerade erst angekommen?!". Ich würde sagen, dass ich mich extrem schnell und gut eingelebt habe, und je länger ich hier lebe und arbeite, desto mehr Verantwortung beginne ich zu übernehmen. Während ich in meiner ersten Woche beispielsweise mit der reinen Betreuung der Residents vollauf beschäftigt war, begann ich in der zweiten Woche auch mit Dingen wie die täglichen Berichte auszufüllen und schon bald darauf übernahm ich auch immer mehr Putzaufgaben und sonstige Arbeiten im Haushalt und begann auch mich in meiner freien Zeit zusätzlich für ein gelungenes und vollwertiges Freiwilligenerlebnis zu engagieren. Als wir letzte Woche, etwas verspätet, einen ganzen Ordner mit wöchentlichen und monatlichen Selbstreflexionsbögen ausgehändigt bekamen, musste ich laut lachen: mir kam dies in diesem Moment reichlich unnötig vor, jetzt, wo ich doch schon seit einer "Ewigkeit" und an diesen Lebensstil gewöhnt war... Wie dem auch sei und ohne ein abschließendes Urteil über die subjektive Länge dieser zwei Monate fällen zu wollen, wollte ich dieses "Jubiläum" doch einmal zum Anlass für ein paar generelle Reflexionen nehmen. Deshalb kommen hier nun zunächst
5 Dinge, die ich in meinen ersten 2 Monaten hier gelernt habe:
- Es gibt nicht den einen "richtigen" Weg, mit den Resident zu sprechen und umzugehen! Bevor ich hier her kam war einer meiner Vorsätze und Vorstellungen genau das: zu lernen, wie ich auf Menschen mit "besonderen Bedürfnissen" richtig, einfühlsam und "politically correct" zugehen kann. Nach kürzester Zeit hier wurde mir aber klar: alle Angestellen und Freiwilligen hier haben dafür Ansätze, die so verschieden sind wie die Persönlichkeiten der Residents. Und man kann unmöglich sagen, was davor jetzt "richtiger" wäre als etwas anderes. Im Gegenteil habe ich sogar den Eindruck, dass es vielen Residents gut tut, täglich auf verschiedene Arten herausgefordert und angesprochen zu werden, mal etwas strenger, mal mehr kumpelhaft, mal auf ruhigere und mal auf überschwänglichere Art. Eines nur scheinen diese Ansätze gemeinsam zu haben: eine sehr liebevolle, persönliche und individuelle Anteilnahme und den ehrlichen Versuch, den speziellen Bedürfnissen eines jeden einzelnen gerecht zu werden. Wenn man den Gerüchten über den Alltag in vielen "konventionellen" Heimen Glauben schenkt etwas, womit das Camphill Konzept in meinen Augen sehr positiv heraussticht.
- Wäsche waschen ;) Ok, Ok, das ist jetzt wirklich ein echtes Klischee für alle jungen, vollkommen unerfahrenen und unselbstständigen Weltenbummler, die nach ihrer Schulzeit das erste mal außerhalb "Hotel Mama" wohnen, aber wie mit vielen Klischees steckt auch hier ein wahrer Kern dahinter. Zwar nicht unbedingt rein in Bezug auf Wäsche, sondern genauso wenn es um Putzen, Kochen und reife Konfliktbewältigungen geht, ist so ein Freiwilligendienst einfach die perfekte Chance in dieser Hinsicht auf sehr sanfte Art etwas selbständiger zu werden. Und obwohl ich das "Baby" in Causeway bin, bin ich definitiv nicht die Einzige, die beim beim Anblick der ersten vollständig gewaschenen, getrockneten, gefalteten und ordentlich im Schrank vertrauten Ladung Klamotten ein leichtes Gefühl von Stolz erfahren hat!
- Wir leben hier mal wieder in einer totalen Bubble! Das ist etwas, was mir während meiner Schulzeit immer wieder extrem aufgefallen ist: die Blasen, die durch bestimmte Freundeskreise, Hobbys und nicht zuletzt die berüchtigten "social media" kreiert werden, werden zwar grundsätzlich von uns Menschen als Gewohnheitstieren als Sicherheit gebend und angenehm empfunden, sollten aber von jedem emanzipierten Geist wohl auch von Zeit zu Zeit hinterfragt und eventuell sogar durchbrochen werden. Ich weiß nicht ob ich mit meiner Entscheidung, einen Freiwilligendienst im Ausland, in einem vollständig neuen sozialen Umfeld und mit einer mir bis dahin vollständig unbekannten Tätigkeit zu machen, unterbewusst mit so einem Ausbruch aus dem Bubble-Schema gerechnet hatte, aber die Wahrheit ist wohl, dass ich eher eine neue Bubble gewonnen habe. Was aus meiner Sicht definitiv bereits eine enorme mentale Bereicherung ist! Gerade wenn Freunde und Verwandte in Deutschland mehr über die aktuellen Corona Regulationen in Nordirland Bescheid zu wissen scheinen als wir, fällt mir auf wie abgeschirmt und positiv gesehen auch beschützt wir hier in der Community sind. Was kümmert es mich, dass man für die nächsten Wochen nur noch mit wenigen Personen aus einem anderen Haushalt zusammen sein darf und für alle Aktivitäten im Radius von 10 Meilen um sein Haus bleiben muss, wenn ich hier auf dem Gelände der Community täglich so oft, so lange und mit so vielen meiner Mitbewohnern spazieren gehen darf wie ich will? Klar freue ich mich irgendwann wieder darauf gerade den öffentlichen Nahverkehr nutzen zu können, Belfast unsicher zu machen oder durch die zahlreichen Charity Shops zu schmökern, aber grundsätzlich betrifft und beschränkt uns die weltweite Lage weder im Arbeitsleben, noch in unserer Freizeit übermäßig. Gleichzeitig ist uns irgendwo irgendwo bewusst, dass es außerhalb dieses Projekts keineswegs selbstverständlich ist, so viele extrem offene und tolerante Menschen für gute Diskussionen und tiefe Gespräche "zur Verfügung zu haben". Da wird sich wohl der ein oder andere nach seiner Rückkehr etwas wundern. Passenderweise sprechen sogar alle Residents immer von den Leuten "from outside", wenn sie von irgendjemand sprechen, der nicht in der Community lebt...
- Camphill hat sich angeblich sehr verändert! Ich kann das zwar persönlich nicht wirklich beurteilen, aber es ist auffällig, wie häufig hier von davon die Rede ist, wie Glencraig "früher" war. Neben dem schleichenden Wechsel vom "Co-Worker" und "Volunteer" Model hin zu einem System mit immer mehr von "draußen" angestellten Arbeitern und Dienstleistern bis hin zum Schwinden von Therapiemöglichkeiten, scheint sich hier hier in den letzten Jahren und besonders seit Corona extrem viel verändert haben. Nicht ohne einen Hauch von Nostalgie schwärmen Resident wie Angestellte von den Zeiten, in denen wöchentliche Workshops, Tanzkurse, Zirkusprojekte etc. für die gesamte Community stattfanden, praktisch alle Lebensmittel (von Gemüse über Milch bis hin zu selbstgezogenen Bienenwachskerzen) in der zu einem gewissen Zeitpunkt praktisch vollkommen autarken Gemeinschaft hergestellt wurden und jedes Haus noch traditionell von engagierten Hauseltern und deren ganzen Familie bewohnt und geleitet wurde. Manche dieser Veränderungen sind schlicht und einfach ein Produkt des demografischen Wandels, manche der nicht wegzudenkenden expandierenden Bürokratie zu Schulden, anderer Dinge wurden durch Covid lahmgelegt, und wieder andere sind durch bewusste und überlegte Entscheidungen entstanden. Unabhängig von den Gründen finde ich persönlich es unglaublich wichtig, nicht an der Vergangenheit festzuklammern, sondern im hier und jetzt nach Möglichkeiten zu suchen, durch die sich die Lebensqualität sowohl für den Einzelnen als auch das Kollektiv nachhaltig verbessern lassen! Eigentlich ein Job, für den die Gesellschaftsgruppe der Freiwilligen wie geschaffen scheinen sollte - zu schade nur, dass mit dem jüngst offiziell vollzogenen Brexit die Zukunft der Existenz dieser in der UK mehr als ungewiss ist...
- Hier schlummern ganz schön viele verborgene Talente! Ich bin immer wieder total geflasht, was für enorme Begabungen hier jeder der Freiwilligen mit sich zu bringen scheint und strahle innerlich, wann immer sich jemand dazu entscheidet, diese mit dem Rest der Truppe zu teilen! Die Eine war in ihrer Jugend ein französischer Rennrad Champion, ein Anderer hat in Ungarn schon zahlreiche Medaillen beim Tischtennis spielen gewonnen, wieder andere haben unglaubliche musikalische Begabungen, sei es beim Singen, Klavier spielen oder Musik mixen. Jeden Montag organisiert einer unserer Mentoren Zirkusworkshops, die mir unglaublich viel Freude bereiten. Zwar gehöre ich offensichtlich nicht zu denen, die das Jonglieren mit drei Bällen innerhalb eines Nachmittags zur Perfektion erlernen können, aber auch ich habe mich voller Enthusiasmus nicht nur auf die Jonglierutensilien, sondern auch auf die Einräder und weiß der Geier was alles gestürzt und genieße jedes noch so kleine Lernerlebnis. In Zukunft haben wir geplant, mit dem Foundation Course noch viel öfter für solche gemeinsamen Aktionen und Projekte Zeit zu finden, aber dazu werde ich sicher bald mal einen extra Blog schreiben!
Soviel fürs erste zur Evaluation meiner ersten zwei Monate hier. Natürlich gibt es auch eine ganze Menge, die ich mir für die nächsten Monate vorgenommen habe, deshalb folgen sogleich auch
5 Dinge, die ich in den nächten Monaten unbedingt lernen/machen/sehen will:
- Gaaanz viele Wanderungen! Sobald der aktuelle Lockdown vorbei ist, weiß ich schon genau, wo ich meinen ersten freien Tag bevorzugt verbringen will: irgendwo in der wunderschönen Natur Nordirlands, sei es an der Nordküste, in den Mourne Mountains oder vielleicht sogar auf einem Trip in die Republik hinüber! Die eigenen zwei Füße sind mir nach wie vor das liebste Transportmittel und ich lechze nach vielen Erlebnissen in guten Gesellschaft an der frischen Luft, wofür eine gewisse Bewegungsfreiheit und idealerweise auch die Möglichkeit, in einen Zug zu steigen, Dinge enorm vereinfacht.
- Wie genau ist das jetzt mit Belfast und dem Nordirland Konflikt und so? Ich bin zwar grundsätzlich nicht sonderlich politisch interessiert oder informiert, aber wenn man so nah zu Belfast, als einem der großen Zentern der "Troubles" wohnt und die Zugdurchsage steht die beiden Optionen "Derry" und "Londonderry" mit einem Schrägstrich ankündigt, dann ist ein bisschen Hintergrundwissen wohl mehr als ein reines Muss...
- Was genau hat sich dieser Herr Steiner da überlegt? Und wer zum Geier ist Karl König?? Als einer der Minderheit und Menschen hier in der Community, die weder in einem Camphill Umfeld aufgewachsen, noch zumindest eine Waldorf Schule besucht hat, habe ich das dringende Bedürfnis, mehr über die ganze Philosophie dahinter und damit verbundene Traditionen zu lernen. Nicht nur, erhoffe ich mir davon eine gewisse Erweiterung meines Horizonts, sondern auch einen neuen Zugang zu den Residents mit denen ich arbeite, und die in den meisten Fällen schon als Kinder in einer solchen Gemeinschaft gelebt haben. Ich kann zwar sicher nicht allen hier gängigen Überzeugungen zustimmen, aber viele der wirklich sehr schönen, spirituellen Traditionen, die ich hier bereits gerade um die Weihnachtszeit herum kennenlernen durfte, in Kombination mit dem sehr Personen-fokussierten Therapie- und Unterstützungsansatz, nehme ich durchaus auf eine sehr positive Art war. Da fällt mir gerade ein, dass ich bisher noch gar kein Bild von einem der, wie ich finde erfrischen anderen, Christbäume nach anthroposophischer Tradition angehängt habe, das werde ich diesmal unbedingt nachholen!
- Mehr Trainings in Bezug auf die Arbeit im sozialen Sektor. Bisher hatte ich neben dem Online-Training erst ein "Health&Safety and Fire Training" und einen meiner Meinung nach extrem informativen und gut geleiteten Erste Hilfe Kurs, aber mit etwas Glück habe ich in den nächsten Wochen die Chance auch Seminare zu Themen wie Medikamentenvergabe und Management von aggressivem Verhalten zu besuchen. Hier lauten meine Devise definitiv "Immer her damit", denn selbst, wenn ich nicht all dieses Wissen akut während meines Freiwilligendienstes benötigen sollte, so bin ich doch primär genau deswegen hier: um neue Erfahrungen zu sammeln, Dinge außerhalb des "Schulkanons" zu lernen und meine Horizont zu erweitern!
- Den keltischen Geist erfahren! Schon beim Lesen von Abenteuerbüchern während meiner Grundschulzeit war ich irgendwie von Erzählungen über keltische Völker und Bräuche fasziniert, während meiner Jugend, lief zeitweise Enya in Dauerschleife und meine absolute Lieblingssage, der Herr der Ringe ist wohl eindeutig mehr als nur stellenweise "keltisch" inspiriert - und nun befinde ich mich wortwörtlich in einer der Länder, in denen der keltische Geist noch so lebendig ist wie nie! Kein Wunder also, dass definitiv Kultstätten wie Newgrange auf meiner Must-See-Liste stehen! Für den Moment (da war irgendwas mit einem Lockdown...) begnüge ich mich damit, ein Buch über verschiedene keltische Bräuche im Jahreskreis zu lesen und kleine keltische Hinterbleibsel in der Community zu fotografieren (siehe Bildergalerie).
So, das waren dann auch meine TOP 5 Vorsätze für die nächsten Wochen und Monate! Eine andere Sache noch, weil ich da gefühlt am laufenden Band danach gefragt werde: Nein, bezüglich der Sprache habe ich bisher eigentlich wirklich noch null Probleme gehabt. Ich hatte zwar auch nicht wirklich damit gerechnet, aber da es ja doch ein eher üblicheres Phänomen von Freiwilligendiensten im Ausland zu seinen scheint, will ich doch kurz erwähnen, dass es mir wirklich sehr leicht fällt sowohl alle Bewohner, Arbeitskollegen und Mitfreiwilligen (einschließlich ein paar lustigen Akzenten ;)) zu verstehen sowie mich selber auszudrücken. Das ist halt der Vorteil, wenn man als Deutsche in einem englischschprachigen Land ist - da kann man sich gewisse extra Schwierigkeiten und Missverständnisse sehr einfach sparen ;). Und auf die Frage, ob und was ich im Moment am meisten vermisse, fällt mir im Moment hauptsächlich mein Cello ein. Ich bin sowieso nicht sonderlich "Heimweh anfällig" und dank der heutigen Technologie fällt es mir recht leicht mit Familie und Freunden in Kontakt zu bleiben, aber trotzdem freut es vielleicht den einen oder anderen zu hören, dass ich hier wirklich im Moment absolut zufrieden und gut eingebunden bin.
In diesem Sinne belasse ich es dann für heute mal mit dem Schreiben und freue mich auf 6 weitere erlebnisreichen und spannende Monate! Bis bald und
Best regards from NI!
Kommentare