Von Integration und Inklusion
Was ich aus meinem EVS-Projekt über die Integration und Inklusion von Menschen mit Behinderung mitnehme.
Ich hatte eigentlich nie etwas mit Menschen mit Behinderung zu tun, es hat sich einfach nicht ergeben. Und wenn es sich nicht ergibt, dann folgen Berührungsängste, das ist wahrscheinlich nur natürlich. Als mein Gymnasium vor einigen Jahren in der Oberstufe den Projektkurs Sport anbot, ging ich für ein Jahr lang jede Woche in eine andere Schule, um dort den Sportunterricht zu gestalten und anschließend meine Facharbeit darüber zu schreiben. Ob die Grundschule oder die Sonderschule, das war mir damals egal und weil es meinen Mitschülern eben nicht egal war, landete ich eher zufällig auf der Sonderschule. Bis heute habe ich die Schüler dort nicht vergessen – so viel hat mir dieses Jahr gegeben. Vor allem hat es mich in dem Wunsch bestärkt, in meinem Jahr nach dem Abi auch mit Menschen mit Behinderung arbeiten zu wollen, was ich ja jetzt auch tue: Die Universidad Autónoma de Madrid hat gemeinsam mit der Fundación Prodis einen eigenen Universitätstitel für junge Menschen mit geistiger Behinderung, die hier studieren dürfen.
Wenn ich von meinem EVS-Projekt erzähle, gehen die Meinungen oftmals auseinander. „Ob das aber das Beste für die Schüler ist...“, bezweifelte vor kurzem noch eine gute Freundin, „Die machen doch nicht denselben Abschluss wie alle anderen, die werden doch ausgeschlossen.“ Meine Projektpartnerin und ich schüttelten daraufhin den Kopf: Ja, wir glauben auch, dass man bei jedem Schüler von Neuem entscheiden muss, ob Integration oder Inklusion besser für ihn wäre, aber wir sind davon überzeugt, dass für unsere Schüler diese Version der Universität, die Integration, die bessere ist.
Aber was hat es eigentlich mit Integration und Inklusion auf sich? So viele diskutieren über diese Begriffe und viel zu viel glauben, sie synonym benutzen zu können – dabei entspricht das Gegenteil der Wahrheit: „Integration und Inklusion bezeichnen vielmehr zwei sich grundlegend unterscheidende sozialpolitische Konzepte und stehen für unterschiedliche Sichtweisen auf die Gesellschaft.“, schreibt beispielsweise die Website www.inklusion-schule.info. Die Grundidee der Integration besteht darin, dass wir zwei Gruppen haben: eine Mehrheit, innerhalb derer die Menschen relativ ähnlich sind, sowie eine Außengruppe, die nicht zur Mehrheit passt. „Das Konzept der Integration nimmt also bewusst Unterschiede wahr und verlangt vom Einzelnen, dass er sich an das Mehrheitssystem anpasst, um ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein.“, erklärt die Website weiter, auch wenn natürlich nicht wertfrei. „Die Inklusion dagegen ordnet unterschiedliche individuelle Eigenschaften und Voraussetzungen nicht auf einer Werteskala, sondern betrachtet die Vielfalt und Heterogenität der Gesellschaft als grundlegend und selbstverständlich.“
Integration in der Universität kann eben bedeuten, dass auch Schüler mit einer Behinderung einen Universitätstitel ablegen können, wenn auch einen eigenen Titel. Inklusion hingegen wäre es, wenn es ihnen ermöglicht wird, dieselben Kurse zu besuchen, die auch sämtliche anderen Schüler besuchen. Aber wäre dies möglich? Ich bin mir sicher, dass es bei vielen Schülern möglich ist, aber mit den jungen Menschen, mit denen ich beispielsweise zusammenarbeite, sehe ich dies als nicht möglich an. Gestern simulierten wir Vorstellungsgespräche und stellten einem Schüler die Frage, warum wir als Firma den ihn einstellen sollten. Er tat sich schwer mit der Frage, kann er sich doch nicht gut in die Rolle eines anderen versetzen. Eine andere Schülerin baten wir darum uns zu erklären, was ihr Praktikumsplatz, eine Bibliothek in der Uni, denn macht, und sie erzählte uns, dass die Bibliothek dafür da sei, dass man dort sein Praktikum machen kann, um zu lernen, wie man mit den Kunden umgeht, wie man die Aufgaben erledigt etc. Auf die Idee, dass die Bibliothek zuerst einmal da ist, um Bücher auszuleihen, kam sie nicht. Um die Möglichkeit zu haben, in den Arbeitsalltag eingegliedert zu werden, brauchen unsere Schüler nicht nur erlerntes Wissen, sondern vor allem viel Unterstützung in ihrer individuellen Entwicklung, nicht umsonst haben sie viele Fächer, in denen es darum geht, die eigenen Gefühle zu verstehen und zu kontrollieren.
Ich könnte noch tausende weitere Geschichten erzählen, die mir zeigen, dass eben das, was in der zuvor angeführten Definition der Integration als negativ dargestellt wird, genau das Richte für sie ist: Ist es denn schlecht, anzuerkennen, dass dieses System bewusst Unterschiede wahrnimmt? Nur auf diese Art und Weise können wir Schülern, die besondere Hilfe brauchen, doch eben diese geben. Denke ich zurück an meine Zeit als Sportleiter in einer Sonderschule, dann sehe ich noch etwas ganz anderes: Würde es Kindern mit Behinderung gelingen, hier schnell Anschluss zu finden und sich wohlzufühlen? Oder würden sie ständig mit der Tatsache konfrontiert, dass andere Schüler mit weiterreichenden oder vielleicht auch nur schulkonformeren Vorraussetzungen geboren wurden? In einem Schulsystem, in dem Mobbing wieder und wieder diskutiert wird, in dem ständig Lehrer und Geld fehlen, in dem Leistungsdruck das Stichwort ist, müssen wir meiner Meinung nach erst ganz andere Probleme lösen. In meinem Philosophiekurs diskutieren wir einmal über das Thema und ein Schüler antwortete ehrlich, „Ich lass mich doch nicht zurückhalten.“ Sowohl Integration als auch Inklusion ist eben mehr als die Rollstuhlrampe, die vor der Schule oder der Universität steht, sie muss Schritt für Schritt eingeführt werden. Ich glaube, dass Integration durchaus ein erster Schritt sein kann, auf den irgendwann Inklusion folgen kann, jedoch halte ich Inklusion noch an viel zu vielen Stellen für Utopie.
Vor allem glaube ich aber, dass die Unterscheidung zwischen Integration und Inklusion am Ende nicht aufgehen kann: Wir haben es mit Menschen zu tun und wir können nicht die Gruppe der Menschen mit einer Behinderung betrachten und uns entscheiden, ob Integration oder Inklusion der bessere Weg für sie als Gruppe ist. Wir müssen mehr Mut zur Fall-zur-Fall-Entscheidung zeigen, mehr Mut zeigen, jeden Mensch individuell zu betrachten und eine individuelle Entscheidung für ihn zu treffen, auch wenn dies mit Sicherheit der für das Bildungssystem teurere und zeitaufwendigere Wege ist. Was ich aus meinem EVS-Projekt mitnehme, das ist jedoch, dass wir diese Diskussion nicht in schwarz-weiß sehen können, wir können kein allgemeines Urteil fällen, wir müssen auch Menschen mit Behinderung so sehen, wie wir jedem Mensch begegnen sollten: als Individuum, das von vielen unterschiedlichen Charakteristiken, von Erfahrungen, von Gefühlen und vielem mehr beeinflusst wird, aber mit Sicherheit nicht einzig und allein von einer Behinderung.