(Über)Leben - Die französische Mittelschicht
Die starken Protestwellen in Frankreich, nicht länger nur von Gelbwesten, sondern zum Beispiel auch von SchülerInnen oder von Bauern und Bäuerinnen zeigt, dass die Mittelschicht in Frankreich kriselt: Während Frankreich einst als Meister der Umverteilung galt, scheint die Gesellschaft heute tendenziös zu spalten, und viele sind vom einem sozialen Abstieg bedroht.
Spazierte man in den letzten Wochen durch französische Städte, werden einem vermutlich viele Graffitis aufgefallen, die nicht nur regierungskritisch, sondern regelrecht brutal sind: Macron en prison, Macron tu es mort, Paris est nous… Diese Menschen, die hier protestiert haben, haben hier viel zu verlieren. Vielen geht es nicht um die Erhöhung der Benzin- und Dieselpreise, was stets als Auslöser in den Medien präsentiert wurde. Sie sind auch nicht gegen den Umweltschutz, was viele zunächst dachten. Sie sehen ihre Lebensumstände bedroht, sich ihrer Perspektiven geraubt und die Zukunft ihrer Kinder gefährdet. Und diesen Ängsten stellen sie sich entgegen, notfalls auch mit aller Gewalt.
Um diese Rage zu verstehen, muss man die französische Mittelschicht betrachten: Und diese leidet unter einem Phänomen, welches sich in fast allen europäischen Gesellschaften beobachten lässt, die wachsende Schere zwischen Arm und Reich, die immer größer werdende gesellschaftliche Kluft. Dazu kommt, dass sich in vielen Fällen die Gesellschaft nicht nur spaltet, sondern auch die Durchlässigkeit, die soziale Mobilität ermöglicht, immer weiter reduziert wird. Deswegen konzentriert sich in Frankreich die Wut auch so sehr auf diejenigen, die die Elite repräsentieren: Und Macron, ein Mann der Wirtschaft, einer, der ökonomisch denkt, und der an der Spitze der französischen Politik auch noch versucht, das französische System zu rationalisieren.
Das Land, welches eigentlich im Zeichen der Revolution von 1789 und deren Motto von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit steht, hat sich in eine Klassengesellschaft verwandelt. Und das, obwohl das Land im Vergleich mit dem Industrieländern der OECD sehr hohe Sozialausgaben leistet: 3,15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Dadurch schrumpfte die soziale Kluft auch ein wenig, Macrons Politik änderte diesen Umverteilungsprozess dann, zugunsten einer wirtschaftsliberalen Politik. Um Frankreich als Wirtschaftsstandort zu stärken, Investoren anzulocken und damit auch mehr Arbeitsplätze zu schaffen. In diesem Sinne schuf er zunächst die Vermögenssteuer fast gänzlich ab, senkte die Kapitalertragssteuer und versprach zudem, die Steuern auf Unternehmensgewinne im Laufe der nächsten Jahre auf 25%zu drosseln. Diese Entlastung der Wirtschaft durch niedrigere Steuern und weniger Abgaben sollte nun zum Prosperieren und dem Wohlstand Aller beitragen.
Die Schaffung von Arbeitsplätzen aber, und die Reformierung des wirtschaftlichen Systems, sind langwierige Prozesse, und viele Menschen leiden zunächst unter der Transition, vor allem da sie hauptsächlich die obere Mittelschicht und die Oberschicht unterstützen. Die direkten Folgen einer solchen Politik: Die drastische Senkung von Sozialleistungen. Und das gefährdet insbesondere die untere Mittelschicht, die sich nun vom sozialen Abstieg bedroht sieht: In meiner Arbeit in einer Kleinstadt in der Nähe Paris macht sich diese gesellschaftliche Entwicklung deutlich spürbar, es sich nicht länger nur Schulabbrecher und Langzeitarbeitslose welche hier Hilfe suchen, es sind gestandene Menschen, viele mit Familien, die hier um Unterstützung bitten.
Es ist aber nicht nur die finanzielle Notlage, die diese Menschen so erschüttert, es ist vor allem auch die Missachtung, die Ignoranz, aber auch, dass sie nicht ernst genommen werden. An dem ersten Protestwochenende starben zwei Menschen, was allerdings kaum medial thematisiert wurde -Wie hätten wohl die Medien reagiert, wenn es Studentenproteste gewesen wären? Aber da es sich um Arbeiter handelte wurden dem Ganzen wenig Aufmerksamkeit geschenkt.
Die Angst vor dem sozialen Abstieg treibt viele Menschen in Frankreich auf die Straßen. Vor dieser gesellschaftlichen Tendenz sollten wir uns aber eigentlich alle fürchten, unabhängig von der Höhe unseres Einkommens oder unseres Bildungsstandes: Eine gesellschaftliche Spaltung kann schreckliche Folgen haben, sie wird eine Demokratie stark belasten, im schlimmsten Falle soweit, dass ein gewaltsamer Umsturz und eine radikale Umverteilung nicht vermeidbar sind. Um diese Krise zu vermeiden, geht es nun darum, sich mit den gesellschaftlichen Realitäten in Frankreich aber auch in Deutschland auseinanderzusetzen. Soziale Mobilität muss zu einer Priorität werden, welche auch der einzige, nachhaltige Weg zu einem allgemeinen Wohlstand ist.
https://www.zeit.de/wirtschaft/2018-12/frankreich-gelbwesten-demonstrationen-carlos-ghosn-anklage-soziale-gerechtigkeit/seite-2
https://www.arte.tv/de/videos/050346-002-A/abstieg-oder-fall-die-franzoesische-mittelschicht/