Über Freunde, Heimat und die Ferne
10 Minuten Nachdenken :)
Wir kommen vom Flachland. Da, wo wir wohnen, kann man weit schauen, kein Berg, der sich einem in den Blick stellt. Nichts, was man übersehen könnte. Nichts, was man verpassen könnte. Nur die Ahnung nach mehr. Sich einmal drehen heißt einen Radius abstecken, ein Kreis, den ich gezogen habe, mit Menschen, die ich kenne, Stellen auf die ich meine Schritte gesetzt habe. Freundschaften. Menschen, mit denen man nicht nur viel Zeit verbracht hat, man hat diese Zeit auch noch gerne mit ihnen verbracht. Und wenn die Schule vorbei ist und sich unsere Wege trennen, versprechen wir uns, dass wir für immer Freunde bleiben werden. Fünf Jahre später reden wir vielleicht schon nicht mehr miteinander. Wir schauen uns die alten Abizeitungen an, in denen wir uns gesagt haben, wie wichtig wir waren.
Tamara Bach: Busfahrt mit Kuhn.Verlag Friedrich Oettinge, 2005, Seite 141
Diese Sätze stammen aus dem Jugendbuch „Busfahrt mit Kuhn“ von Tamara Bach, ein Buch was ich bei meiner Ankunft in Nagyvázsony in unserer Freiwilligenwohnung gefunden habe, wahrscheinlich von vorherigen Freiwilligen. Es ist nicht dick und aus Interesse, worum es in dem einzigen deutschen Buch in unserer Wohnung geht, habe ich es an einem Abend mal gelesen. Zuerst musste ich mich ein wenig an den Schreibstil gewöhnen, denn das Buch ist eine Mischung zwischen Fließtext und Theatermanuskript, was das Lesen nicht einfach macht. In dem Buch geht es um vier frisch gebackene Abiturienten, die nach ihrem Schulabschluss kurzerhand einen VW-Bus ohne Erlaubnis ausleihen, um damit einen Road Trip nach Süddeutschland zu einem Popkonzert machen. Wenn dich das Buch interessiert, dann kannst du es dir hier mal anschauen. Es geht um Freundschaft, Zukunft, das jugendliche Leben und Veränderung. Das Buch habe ich relativ schnell gelesen und ich war nicht allzu beeindruckt, da es für mich keinen Höhepunkt hatte und es dementsprechend nur so dahingeplätschert ist. Doch einige Sätze sind mir besonders in Erinnerung geblieben, (ganz besonders die allerletzten, s.u.) weil sie so schön einfach aussprechen, was war ist.
Man nehme zum Beispiel die Passage oben. Ich komme auch vom Flachland. Dort, wo man einige Kilometer weit sehen kann, ohne etwas, was einem die Sich versperrt. Wenn etwas kommt, dann sieht man es schon von weitem. Auch hatte ich eine sehr schöne Schul- und Oberstufenzeit. Ich habe mich mit fast allen Mitschüler*innen gut verstanden und habe auch viele Freunde gefunden. Beim Abiball wollte man es noch nicht wahrhaben, dass jetzt unsere Schulzeit vorbei ist, dass sich unsere Wege trennen, wir uns vielleicht nie mehr wiedersehen werden. Bei der Abiturentlassung haben wir über unsere Zukunftspläne gesprochen, die meisten wollten erst einmal reisen, wenige hatten sich schon für einen Studiengang entschieden, einige strebten ein freiwilliges Jahr im In- und Ausland an, aber die Mehrheit hatte noch keine Ahnung, wie ihre nächsten Jahre aussehen würden.
Und nun? Wie es jetzt nach einem Jahr aussieht, was meine ehemaligen Mitschüler*innen so treiben würde mich sehr interessieren. Erstaunlicherweise kommt mir dieses eine Jahr nach meiner Abiturentlassung viel länger als ein Jahr vor. Vielleicht liegt es daran, dass bisher so viel passiert ist, ich viel Neues gesehen, gelernt und erlebt habe, unzählige neue Menschen kennen gelernt habe und ich seit 12 Jahre etwas anderes gemacht habe, als das, was ich davor gemacht habe. Wie sieht es mit meinen Freunden und Kontakten aus der Schulzeit aus? Zunächst muss man wissen, dass Schulfreunde meistens Freunde zum Zweck sind. Sie sind in derselben Klasse bzw. in demselben Kurs wie ich und man hat keine andere Wahl, als mit ihnen in Kontakt zu kommen. Sobald man dann einige Jahre zusammen verbringt und dann auf den einen oder anderen Geburtstag eingeladen wird, kommt man immer besser miteinander aus und versteht sich schließlich recht gut. Während den Ferien trifft man sich vielleicht einmal zusammen mit anderen Mitschüler*innen, um ins Kino zu gehen, aber ansonsten macht jeder sein eigenes Ding. Wenn man sich in der Schule nicht treffen würde, würde man auch keinen Kontakt mehr halten. Und nach der Schulzeit? Dann merkt man, mit wem man wirklich befreundet war und mit wem nicht. Bei vielen meiner Mitschüler*innen wusste ich schon, dass wir keinen Kontakt mehr halten werden, während ich bei anderen überrascht bin, positiv wie negativ. Man merkt, wer sich wirklich für einen interessiert und wer ehe nicht daran denkt.
So ist das Leben. Menschen kommen und Menschen gehen. Dasselbe was ich schon oben in Bezug auf die Schule geschrieben habe, trifft im Übrigen auch für meine Mitbewohner zu. Man versteht sich gut, weil man keine andere Wahl hatte, wenn sie nach Hause gehen, ist man traurig, aber es geht weiter und neue Mitbewohner kommen. Ab und zu schreibt man nochmal über Neues aus Nagyvázsony und natürlich steht die Einladung in das jeweilige Land, aber ganz ehrlich, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, sich wiederzutreffen?
So kommen wir auch zum aktuellen Anlass für diesen Artikel und für diesen Song of the Week. In den letzten Tagen sind die portugiesischen und estnischen Freiwilligen nach Hause gefahren, und heute Morgen hat schließlich die italienische Freiwillige Svetlana das Haus verlassen. Nach zehn Monaten, die ich mit ihr zusammen gelebt habe. Sie geht jetzt nach Hause, nach Sizilien, um dort ihren Masterabschluss zu machen. In den letzten Tagen haben wir uns viel über unseren Freiwilligendienst, über unsere Zukunftspläne und unsere Träume unterhalten und ich konnte spüren, wie nervös Svetlana war, Ungarn wieder zu verlassen. Wie soll das bitte werden, wenn ich zurück nach Deutschland fahre?
Momentan bin ich in Aufbruchsstimmung. Zeit für etwas Neues. Ich bin genervt, dieselben Straßen das x-te Mal entlangzulaufen, meinen auswendig gelernten Satz dem Busfahrer zu sagen und immer dieselbe Strecke zu joggen. Doch es gibt mir auch ein Gefühl der Vertrautheit, dass ich mich hier auskenne und dass ich hier einen Platz gefunden habe. Deswegen bin ich irgendwo dort in der Mitte. Vielleicht ist es mehr eine positive Aufbruchsstimmung, die nicht durch das Genervtsein entsteht, sondern von dem Drang, etwas Neues zu beginnen. Es ist ein großartiges Gefühl, etwas Neues zu beginnen. Als die vier Freiwilligen unser Haus verlassen haben, war es komisch, aber auch zeitgleich der Beginn von etwas Neuem und zwar ein wenig mehr Sauberkeit. [] Da morgen ein neuer portugiesischer Freiwilliger kommt und wir dann zwei Jungs und ein Mädchen sind, habe ich heute nach zehn Monaten mein Bett gewechselt und bin in das Zweibettzimmer gezogen. Außerdem bin ich gerade dabei, meine Heimfahrt nach Deutschland zu organisieren (im Voraus sind die Tickets günstiger). Nur noch zwei Monate!
Außerdem bin ich Reiselust. Das Wetter ist fantastisch und es zieht mich irgendwo hin, hauptsache unbekannt. So ähnlich wie nach dem Abi. Man hat Pläne für morgen, träumt vom großen Leben, während man für dieses eben noch keine Pläne hat. Man will raus, irgendwo hin, bloß weg und dann erstmal schauen. Die Hauptsache ist es erstmal nur, das Leben im hier und jetzt zu genießen und Neues zu erleben. So ähnlich überings wie beim EVS. Die meisten Freiwilligen, gerade wenn sie schon älter sind, wollen etwas Neues machen, herausbrechen aus dem Altbekannten und sich neu orientieren. Wenn sie nach Hause gehen, haben sie meistens noch keinen konkreten Plan, aber es wird schon irgendwie gehen.
Apropos gehen, um diesen Artikel endlich abzuschließen, (es ist schon ziemlich spät) kommen nun meine Lieblingsätze aus dem Buch, die mir noch sehr nachhaltig im Gedächtnis geblieben sind.
Es geht weiter. Wir stehen auf. Und gehen los. Und irgendwann wird unser Gehen auch eine Richtung bekommen.
Tamara Bach: Busfahrt mit Kuhn.Verlag Friedrich Oettinge, 2005, Seite 143