Tomate-Mozzarella – unterschiedlich, aber passt zusammen
Benno Malte Müchler, 20, Berufswunsch Journalist, erfuhr vom Wettbewerb, einen Monat nachdem er von seinem einjährigen Aufenthalt in Sanary Sur Mer, Frankreich, zurück war. So nutzte er die Möglichkeit, darüber zu schreiben, wie die Menschen des französischen Fischerdorfs ihn und sein Bild von Europa verändert haben.
Ein heißer Tag im Juli neigt sich seinem Ende zu. Die Abenddämmerung hat längst begonnen und lässt die letzten Sonnenstrahlen durch die Äste der riesigen Pinienbäume blitzen. Ein leiser Wind weht über das Gelände und wirbelt den Staub vom Boden auf. Aus der Ferne hört man die Möwen über dem Meer kreischen. Lachende Kinderstimmen tönen von der anderen Seite der Küche herüber.
Doch auf dem gekiesten Parkplatz hinter der Küche herrscht Ruhe. Alle sind erschöpft an diesem Arbeitstag. In der Luft liegt der Geruch von Grillfisch auf Kohlen. Um zwei rechteckige, aneinander gestellte Tische herum sitzen neun müde, aber zufriedene Gestalten, die sich vor gut einem Jahr noch wildfremd waren. Schmatzend genießen sie jetzt den großen, gegrillten Fisch, den man heute Morgen unten im Hafen frisch gekauft hat. Würzig-lecker schmeckt dazu der Tomaten-Mozzarella-Salat mit Basilikumblättern, der nur noch von den süßen Feigen gekrönt wird, die ich vom Baum hinter unserem Haus gepflückt habe.
Die kleine Runde kennt sich gut, und ich kenne die Runde. Es sind meine Arbeitskollegen – die meisten deutlich älter als ich. Wir erzählen uns von unseren Tageserlebnissen. In wohl vertrauter Atmosphäre, so wie wir den anderen kennen. Viel Zeit für gemeinsame Stunden bleibt nicht mehr. Die Hochsaison ist in vollem Gange und mein Dienst hier ist bald beendet.
Vor einem Jahr, am 29.August 2004, bin ich mit Hilfe der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR) nach Sanary sur Mer, an die französische Mittelmeerküste gekommen. Hier in dem kleinen Fischerdorf, leiste ich für zwölf Monate ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ), als Zivildienstersatz. Ich arbeite in einer Jugendherberge, dem „Centre Azur“, das den „Unions Chrétiennes de Jeunes Gens“ (UCJG) angehört, sozusagen dem französischen YMCA.
Meine Arbeit ist schnell beschrieben. Ich bin das Mädchen für alles. Im Restaurant des Centre Azur mache ich den Abwasch, muss kellnern und helfe den Köchen. Ansonsten bin ich die „femme de ménage“, die die Gästezimmer putzt oder der Hausmeister, der das Gelände in Schuss hält. Die Arbeit ist nicht kompliziert, aber körperlich anstrengend – besonders zur Hochsaison, in den heißen Sommermonaten.
„Ob ich das bedauert hätte“, haben mich Freunde nach meiner Rückkehr gefragt. Keineswegs, denn diese zwölf Monate haben mich grundlegend verändert und mir den Blick für Neues eröffnet. Mit der Ankunft 2004 in Sanary, hatte ich den alten, unsicheren, introvertierten und schüchternen 19-jährigen Benno in der Heimat zurückgelassen. Unlustig und gebunden an zu Hause, wie er war, habe ich diesen Gefährten vergangener Tage nicht sehr vermisst. Schnell habe ich mich mit dem neuen, offenen, selbstbewussten und bald 20-jährigen Benno angefreundet. Verantwortungsvoll und bescheiden ist er erfahrener im Umgang mit Menschen und ein guter Zuhörer geworden. Fleißig und zielstrebig packt er die Dinge sofort an. Natürlich ist auch sein Französisch besser geworden.
Doch was hat mich so neu entstehen lassen? Die Arbeit nicht, es waren die Menschen, die ich hier kennen gelernt habe. Es waren die Menschen Frankreichs, die Menschen Europas, mit denen ich abends um den Tisch gesessen habe und die mir ans Herz gewachsen sind. Einfache Leute aus der Arbeiterschicht Frankreichs, ohne guten Schulabschluss. Leute, die nicht Thema großer, öffentlicher, europäischer Diskussionen sind. Der 60 Jahre alte Jacques, der nach seiner Scheidung arbeitslos auf der Straße stand. Claudio, der Italiener, der seine dreie Kinder alleine hat aufziehen müssen und dessen Familie immer wieder von schicksalhaften, tödlichen Unfällen heimgesucht wurde. Nathalie, deren Mann ihr ihre beiden Töchter nach der Trennung entrissen hat, obwohl er kein Sorgerecht für sie besitzt.
Allein diese drei haben mir gezeigt, was wichtig im Leben ist. Sie haben die Lust an ihm nie verloren. Sie denken und fühlen genauso wie ich, obwohl sie in einem anderen Land leben.
Das ist „Europa“ für mich.
Viel habe ich über diesen abstrakten Begriff während meiner Zeit in dieser französischen Jugendherberge nachgedacht – dort, wo mir so viele verschiedenartige Menschen und Urlauber begegnet sind. Europa ist nicht die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS). Europa ist nicht die Währungsunion. Es ist nicht das Euro-Land und die zollfreie Zone.
Das kann es zwar auch sein, doch mein Europa ist grenzenlos und übergreifend. Es ist eine Gemeinschaft von Menschen in verschiedenen Ländern, die die gleichen Traditionen und Werte haben – die gleiche Kultur. Das Römische Recht, die Demokratie und die individuelle Freiheit sind unser gemeinsames Erbe und das Fundament, auf dem wir leben. Es ist diese Identifikation, die ich überall auf dem europäischen Kontinent finden kann, auch in den neu dazu gewonnenen Staaten. Ich habe sie in Jacques, Claudio und Nathalie gefunden.
Das ist mein Europa. Hier fühle ich mich heimisch und zugehörig, egal ob in Frankreich, Spanien, Italien, Deutschland oder woanders. Diese verbundene Zugehörigkeit macht Europa aus.
„Unsterblich wird Dein Name werden; denn der fremde Weltteil, der Dich aufgenommen hat, heißt nach Dir: Europa!“ (aus Gustavs Schwabs ‚Schönsten Sagen des klassischen Altertums / die Sage der Europa)