Tage wie diese – Tag 1
Bilanz:
20 km
1 Stunde, 42 Minuten
Diese Reportage ist die erste in einer insgesamt achtteiligen Serie, die die Geschehnisse zwischen dem 18.09.2016 und dem 23.09.2016 grob umreißt. Die Achterserie setzt sich zusammen aus sechs Reportagen, die jeweils einen Tag abhandeln und zwei Sondertexten, die von spezifischeren Erlebnissen handeln.
Von meinem Glück, bei der Fahrradtour der Plhov-Schule mitfahren zu dürfen, erfuhr ich am Mittwoch, den 14.09.16 bei unserem Seminar in Vyžňov. Mir wurde der Funkfernsprecher in die Hand gedrückt und irgendeine Stimme teilte mir die Details des Ausflugs mit. Wie sich später herausstellte, war das Petra, meine Tschechischlehrerin, deren Ehemann David Lehrer an der Plhov-Schule ist und ebenfalls mitfährt. Später wurde mir noch von meiner Kollegin in der Schule die Packliste (warum schlägt mir mein Textverarbeitungsprogramm „Lackminiaturen“ vor?) übersetzt und weitergeleitet. An jedes Detail wurde gedacht. So konnte ich von Petra einen Fahrradhelm ausleihen, da meiner noch in Deutschland liegt, wo er ein tristes Dasein fristet. Aufgrund der tadellosen Planung war meine Vorfreude groß. Am Sonntagnachmittag war es dann soweit.
Gerade bin ich mit Packen fertig geworden, schon muss ich los. Ich verabschiede mich von meiner Mitbewohnerin, die fast eine Woche lang die Wohnung für sich haben wird. Dann ziehe ich die Tür zu. Mit Rucksack und Reisetasche geht es nun nach unten, um mein Fahrrad aus dem Fahrradkeller zu holen. Als dann auch das erledigt ist, gehe ich zum Haus meiner Kollegin. Dieses ist in einer Minute zu Fuß zu erreichen. „Fünf Minuten vor der Zeit, ist des Deutschen Pünktlichkeit.“ heißt ein bekanntes Sprichwort. Gut, in diesem Fall waren es drei Minuten. Immerhin. Kurze Zeit später kommt sie aus dem Haus und redet zu meiner Verwunderung nur tschechisch mit mir. Wir vereinbaren, dass sie den Reisekoffer zur Schule fährt und ich mit dem Fahrrad und dem Rucksack selbst fahre. In Windeseile fahre ich los und bin dank der Kreisverkehre und Hauptstraßen schon in fünf Minuten an der Schule. Ich stelle mein Fahrrad vor der Schule ab und warte, dass etwas passiert. Nach ein paar Minuten kommt der erste Lehrer dazu. Jarda ist Sportlehrer und hat mir bereits am vorigen Freitag nähere Informationen zum Trip mitgeteilt. Er hält erst einmal einen Plausch mit dem anwesenden Elternpaar, das die Reisetaschen transportiert. Nach mehreren Minuten kommt der blaue Škoda Fabia endlich angerollt und ich kann meinen Koffer ausladen. Sie habe an der Bahnschranke warten müssen, sagt sie. Zusammen gehen wir zum Vorplatz der Schule und kurze Zeit später auch hinein, denn es fängt an zu regnen. Das ganze Gebäude wird selbst am Wochenende durchgehend geheizt. Aus diesem Grund muss ich erst einmal die Jacke ausziehen. Nachdem wir einige Zeit in der Aula verweilt haben, stößt Petra dazu und überreicht mir den Fahrradhelm. Bei dieser Gelegenheit lerne ich auch zum ersten Mal David, Petras Ehemann kennen. Er redet gutes Englisch und freut sich ebenso wie ich auf diese Fahrt.
Nach und nach kommen immer mehr Eltern und vorrangig Schüler dazu, ausgerüstet mit teils hochwertigen Fahrrädern. Man merkt, dass man an einer Sportschule ist. Die meisten Kinder scheinen in ihrer Freizeit sportlich aktiv zu sein. Cannondale, Scott, Haibike, alles edle Fabrikate. Und ich eben mit meinem Ghost. Keinem Rolls-Royce Ghost, leider, sondern einem deutschen Geländefahrrad. Der Regen hat das Fahrrad mit einem Feuchtigkeitsfilm versehen, was in Anbetracht dessen Zustands aber sowieso nicht mehr ins Gewicht fällt. „Du wirst ganz naß.“, würde Falco sagen. Der Ausflug nach Kudowa-Zdrój am Vortag bei schlechtem Wetter hat seine Spuren am Rahmen hinterlassen. Als alle Schüler und Schülerinnen versammelt sind, werden sie nach Klassen getrennt und es wird eine Reihenfolge festgelegt, in der gefahren wird. Von unserer Gruppe fahre ich als Letzter. Kann mir immerhin schon mal keiner hinten auffahren. Es geht wieder Richtung Bahnhof, an rauchenden Fabriken vorbei und nach rechts raus aus Náchod. Je weiter wir fahren, desto weniger kenne ich mich aus. Nach zwei Kilometern ist alles Neuland. Sieht so das Neuland aus, von dem Merkel einst sprach? Das gelobte Neuland? Nur den Fluss habe ich als Anhaltspunkt. Der Euphrat oder Tigris ist es nicht, sondern die Mettau. Kein Nebenfluss der Hilla, sondern der Elbe. Ihr entlang führt der Weg. Man fährt durch Wohngebiete, die Natur und auch Straßenabschnitte. Ein Haus bleibt mir besonders in Erinnerung. Es sieht aus wie ein Schuhkarton. Man kann es sich etwa vorstellen wie die Häuser im „Land der Klugen“, das in Staffel 1, Folge 4 der Sendung „Lilalu im Schepperland“ vorkommt. Ein reiner Quader, auf allen Seiten weiß, nur vorne, mit Blick auf den Fluss und den Wald, ist ein Riesenfenster, eher schon eine Glasfassade, die jedoch mithilfe von Jalousien den Blick von außen unterbindet. Wenn ich dieses Wort sehe, muss ich lachen. Ist es doch wie kein anderes Wort anfällig für eine Fehlnutzung beim deutschen Versuch des Sprechens einer Fremdsprache. Mit einer Französin hatte ich zu diesem Thema eine amüsante Unterhaltung. Auf Französisch bedeutet Jalousie „Eifersucht“. Etymologisch zwar gerechtfertigt, erschließt sich dem durchschnittlichen Menschen die Entlehnung nicht. „Blinds“ wäre der richtige englische Begriff gewesen. Wie Otto von Bismarck zu sagen pflegte: „Nur der Dumme lernt aus der Erfahrung, der Kluge dagegen aus der Erfahrung anderer.“ Wir sprechen, ohne zu verstehen.
Weshalb meine Aufmerksamkeit auf dieses Haus gelenkt wurde, liegt an zwei Seltenheiten Tschechiens. Man sieht in Tschechien viele Škodas und Koreaner, selten aber teure Autos. Ein Audi A4 ist schon das Höchste der Gefühle, während dieser in Deutschland ja eher der Einstieg zum Premiumsegment ist. Ganz anders bei diesem Haus. Ein Mercedes-Benz S500 und ein G 63 AMG stehen vor dem Haus. Entweder ein Chauffeurservice mit Geländesparte oder ein vom Unternehmen finanzierter privater Fuhrpark des Chefs.
Der größte Teil der Strecke ist von einer regelrechten Langeweile geprägt. An was man sich erfreuen kann, ist der neu gemachte Fahrradweg, auf welchem wir fahren. Da kann Deutschland noch was lernen. Hier in Tschechien findet man aalglatten Asphalt vor, auf dem es sich super fährt. Gebremst wird man höchstens von den Vordermännern. Das Durchschnittstempo ist allgemein nicht sonderlich hoch, irgendwann findet man sich damit ab. Alle paar Kilometer wird eine Pause eingelegt. Das werde gemacht, um den Kindern gleich am ersten Tag nicht schon zu viel abzuverlangen, sagt Jarda. Ich nutze die Pause, um etwas zu trinken. Aus Polen hatte ich dieses blaue Elektrolytgetränk à la Powerade mitgebracht. Es schmeckt. Nach der langen Wohngebiet- und Straßenphase geht es jetzt über Stock und Stein durch den Wald. Hier verschlechtert sich der Zustand der Straße enorm. Anscheinend doch nicht so unklug, dass ich es beim niedrigen Luftdruck von 2 bar in den Reifen belassen habe. So habe ich jetzt außergewöhnlich viel Halt und komme gut voran auf dem unwegsamen Untergrund. Was schon mehr stört, sind die Langsamfahrenden vor mir. Ich fahre gern zügig, das ist kein Geheimnis, deshalb ist es unschön, ständig ausgebremst zu werden. Ich fühle mich wie ein Porsche in der Tempo-30-Zone.
Einen Vorteil hat die Sache zumindest. Meine Beine treten quasi von alleine, daher kann ich sowohl gedanklich als auch mit dem Blicke abschweifen und die Natur genießen. Während die Landschaft in Náchod und Vyžňov der Schwäbischen Alb noch zum Verwechseln ähnlich sah, findet man nun erste Anhaltspunkte einer Ortsänderung. Die Vegetation ist eindeutig eine andere. Im Internet liest man immer, Tschechien sei das Paradies für Pilzsammler. Trotzdem waren meine Pilz-Exkursionen bisher erfolglos. Vom Fahrrad aus habe ich jetzt endlich mal ein paar Exemplare gesichtet. Falls sich keine nähere Quelle finden lässt, habe ich jetzt zumindest einen Alternativort, wo ich suchen kann. Es gibt zudem bei weitem mehr Laubbäume und vor allem Birken. Keine Nadelholz-Langeweile wie in Deutschland. Auch der Hügelcharakter ist auffällig. Während es auf der Alb die relativ klare Trennung aus Berg und Tal gibt, ist die Umgebung um Náchod, wo Ausläufer des Adler- und Riesengebirges zusammenkommen, geprägt von zahlreichen Erhebungen, ohne dabei richtige Gipfel und Täler zu haben. Stattdessen findet man überall seltsam eckig geformte Hügel. Zum Fahren angenehm. Kaum wird der Anstieg anstrengend, schon entlohnt eine kurvige Abfahrt mit dem Rausch der Geschwindigkeit.
Nach einer Weile, auf den letzten Kilometern erst, wird das Überholverbot aufgehoben und ich ziehe nach und nach an den Anderen vorbei, bis ich in der vordersten Gruppe mitfahre. Das fordert unnötig nötige Kraftreserven, ist aber immerhin zufriedenstellender als die ewige Langsamfahrt. Der Waldweg geht wieder über in eine normale Straße. Ist zwar monoton, aber schnell und bequem. Viele Autos fahren an diesem Tag nicht auf der Straße. Drei haben uns auf der ganzen Strecke überholt. Ein Opel Vectra, ein Škoda Octavia Kombi und ein Audi A4. Warum ich das weiß? Ich weiß es nicht. Muss die Langeweile sein.
Als ich gerade wieder zum Überholen ansetzen will, sehe ich, dass die Gruppe hält. Ob das jetzt die fünfte Pause sein soll, frage ich mich. Doch warten diesmal nicht alle, weil wir noch nicht da sind, sondern eben weil wir da sind. Eine Stunde und Zweiundvierzig Minuten hat es gedauert. In der Ferne sieht man die Anlage. In einer Reihe stehen die kleinen Hütten. Klein sind sie, aber zahlreich. Über einen Schotterweg gelangen wir zum Hauptgebäude. Das klingt auf Deutsch immer nach so etwas großem, dabei ist es einfach das Haus, in dem Küche, Essenssaal (drei Doppelbuchstaben in einem Wort, ich liebe die deutsche Sprache) und die Schlafräume für Schüler und Lehrer sind. Als erstes stellen wir die Fahrräder in einen Unterstand und eine Hütte. Dann gehen wir zum Eingang des Hauses. Der Wirt empfängt uns. Eine lustige Person. Mitte bis Ende Fünfzig, graue Haare und Vollbart, das Oberteil trägt er auf links. Er erklärt den Lehrern die Lage bei den Unterkünften. Die Hütten könne er leider nicht anbieten, dafür aber die Zimmer im Hauptgebäude. Da die Räume unterschiedlich groß sind, müssen sich größere Gruppen leider aufteilen. Für zwölfjährige Mädchen kann das durchaus zur Zerreißprobe werden. Keine der Sieben möchte die Gruppe verlassen. Als dieses Problemchen geklärt ist, wird auch mir die Einrichtung gezeigt. Zuerst muss man die Schuhe ausziehen. Warum der Boden trotz Schuhverbot so schmutzig ist, erschließt sich mir nicht. Als erstes kommt man an den Zimmern der Schüler vorbei. Es ist laut und riecht nach Deodorant. Schließlich kommt man in den Speisesaal. Essen sehe ich noch nicht, aber der Geruch lässt Gutes erahnen. Nochmal weiter durch den Gang und man hat den exklusiven Lehrerabteil. Früher habe ich bei Schulausflügen die Lehrer immer um ihre ruhigen Zimmer beneidet. Heute bin ich quasi selbst einer. Mir gefällt das außerordentlich. Es scheint, als würde ein lang ersehnter Traum endlich Wirklichkeit werden. Bei der Zimmeraufteilung kommt es zu einem kleinen Missverständnis. Alle Lehrerschlafzimmer, die ich bisher gesehen habe, waren Doppelzimmer. David erklärte dann irgendwas in Zusammenhang mit den Zimmern und fragte irgendwann, ob es in Ordnung wäre, dass ich allein in einem der Zweibettzimmer schlafen würde. Ich bejahte sofort, da ich sowieso damit gerechnet hatte, zumal ich kein nach Gemeinschaft lechzender Mensch bin. David reagierte dann etwas verwundert und zeigte mir das Lehrerzimmer, in welchem Jarda und er schliefen. Ein Dreibettzimmer. Es war vorgesehen, dass ich hier schlafe, da man erwartet hatte, dass ich nicht allein sein wolle. Mehrere Fehleinschätzungen auf beiden Seiten. Letztendlich beließ ich es dann beim einzeln genutzten Doppelzimmer, da David so zuvorkommend war, dass ich aus der Nummer nicht mehr herauskam. Na ja, mir soll’s recht sein. Kann ich wenigstens in Ruhe schreiben. Das war auch das erste, was ich tat, nachdem ich das Bett bezogen hatte. Das ist eine Geschichte für sich. Weder die Bettwäsche, noch die Matratze machen einen besonders vertrauenserweckenden Eindruck. Löcher im Bettbezug, Flecken auf der Matratze. Sub-jugenherbergliches Niveau. Für sechs Tage völlig in Ordnung. Mit der immerhin frischen Bettdecke bezogen sieht das Bett gleich schon mal besser aus. Ideal, um sich hineinzulegen und anzufangen mit Schreiben. Wäre da nicht das Abendessen, das den Schreibfluss jäh unterbricht. Besonders lange hätte ich den Hunger allerdings auch nicht mehr ausgehalten. Es gibt ein Buffet. Eine Art Kartoffelnudelpfanne mit Sauerkraut. Keine Gnocchi, allerdings auch keine Schupfnudeln. Eher kleiner, aber von der gleichen Konsistenz. Dazu gibt es eine Art Leberkäse und rote Würstchen. Eine Salattheke gibt es auch. Allerdings am Ende des Buffets. Scheinbar war das Gemüse ohnehin nur als Dekoration für das Hauptgericht vorgesehen. Über den Status einer Verzierung kommt Gemüse in Tschechien nämlich generell nur selten. Ich nehme mir von allem reichlich. Für mich nicht ungewöhnlich viel, ergibt das Essen eben einen Berg von durchaus markanter Höhe. Als die Kinder meine Unmenge Essen sehen, lachen sie. „Ja ja, lacht ihr nur, wir werden sehen, ob ich es schaffe.“ Nach einer Schicht Blattsalat, Tomatensalat und Nudelsalat dringe ich endlich bis zum eigentlichen Essen vor. Diesen Nudelkartoffeln mit Sauerkraut und Wurst. Ersteres kann ich uneingeschränkt empfehlen. Schön mit Speckwürfeln und Zwiebeln gebraten schmeckt das wirklich gut. Beim Fleisch bin ich verwöhnt von Deutschland im Allgemeinen und im Besonderen von der Metzgerei Baumhauer, die mich über ein Jahrzehnt lang mit einwandfreier Wurst und wunderbar-zartem, leckeren Fleisch versorgt hat. In Tschechien muss man bei den Wurstwaren Vorsicht walten lassen. Ich hatte ja eigentlich Leberkäse erwartet. Form, Farbe, Konsistenz hätte gepasst. Nur der Geschmack ist widerlich. Irgendwo muss er eben sparen. Während in Deutschland eher das Kokain gestreckt wird, wird es in Tschechien die Wurst. Und zwar ebenfalls mit Mehl. Billig ist das, doch die Qualität leidet darunter. War ein Fehler, gleich drei Scheiben aufzuladen. Erzwungene Nahrungsaufnahme als vorbeugende Maßnahme für die sportlichen Strapazen der nächsten Tage. Die Kirche hat einen guten Magen, hat ganze Länder aufgefressen und doch noch nie sich übergessen. Ich habe ebenfalls viel aufgegessen. Ob ich mich dabei übergessen habe?
Zu Trinken gibt es nur gesüßten Tee. Ich trinke lieber mein Wasser. Schließlich gießt man Pflanzen auch nicht mit Sirup. Dann gehe ich auf mein Zimmer. Endlich. Von einer extremen Schläfrigkeit heimgesucht, lege ich mich erst einmal hin und verweile in einem leichten Dösschlaf. Wie ein Löwe, das deutsche Lieblingswort der tschechischen Kinder. Nach einer halben Stunde geht's dann wieder und ich kann duschen gehen. Kein Licht und vor allem: Keine Duschkopfhalterung. Ich stehe also in der Dunkelheit, während das immerhin warme Wasser auf meinen Körper prasselt, dabei stets gesteuert von der Hand, die die Duschbrause mangels Befestigungsmöglichkeit halten muss. Einige Minuten später husche ich dann in mein Zimmer, ziehe endlich wieder frische Kleider an, lege mich in mein Bett und schreibe weiter an diesem Text.
Das war der erste Tag der Fahrradtour. Trotz der übersichtlichen Programmpunkte konnte ich schon einiges an Erfahrung sammeln. Und sei es die Realisation, dass ich jetzt unbedingt anfangen sollte, mehr Tschechisch zu lernen. Ein Tag, geprägt von Langeweile und Schnelligkeit. Von Kälte, Regen und trotzdem Spaß. Was schon so beginnt, kann nicht schlecht werden.