Südostanatolien-Trip
Gemeingefährlicher Osten? Wohl eher eine Reise durch die verschiedenen Welten der Türkei!
In unseren Osterferien wollten wir uns etwa ganz besonderes gönnen. Wir beschlossen, in den gemeingefährlichen Südosten der Türkei zu reisen – der natürlich überhaupt nicht gemeingefährlich ist.
Mit dem Nachtbus machten wir und also zuerst auf den Weg nach Gaziantep. Diese Stadt hat etwa 1,3 Millionen Einwohner und ist ungefähr 60 Kilometer vor der syrischen Grenze entfernt. Dort angekommen waren wir zunächst erst mal überrascht, wie viel Aufmerksamkeit uns doch entgegengebracht wurde. Klar wussten wir, dass das nicht Ankara ist, aber so stark hatten wir es doch nicht erwartet. Aber vielleicht lag es auch daran, dass wir unser Gepäck auf dem Rücken hatten, dass sich jeder im Umkreis von 50 Metern für uns interessierte und uns den Weg zeigen wollte. Also brachten wir unsere Rucksäcke erst einmal zu der Wohnung unserer Hosts, einer Gruppe von anderen EVS-Freiwilligen, die ihren Freiwilligendienst in Gaziantep leisten. Dass das eine lustige Truppe ist, sollten wir später noch feststellen. Das Wetter war bei unserer Ankunft noch nicht sehr berauschend, aber blühende Mandelbäume und grüne Wiesen auf dem Weg ließen schon vermuten, dass der Frühling bereit voll Einzug gehalten hatte. Die Stadt an sich ist noch relativ modern, die Wirtschaft blüht, aber trotzdem etwas völlig anderes als Ankara. Allein bei der Architektur merkt man, dass man dem nahen Osten doch irgendwie schon näher gekommen ist. Die Moscheen in Gaziantep sind zum Beispiel mit schwarzen und weißem Gestein verziert. Im Stadtzentrum schlängeln sich kleine Gassen durch die alten Steinhäuser, mit teils prächtigen Innenhöfen. Eine solche Altstadt hat Ankara leider nicht zu bieten. Zunächst verschlug es uns aber in das neue und großartige Mosaikmuseum. Hier werden sämtliche Mosaike aus der nahegelegenen alten römischen Stadt Zeugma ausgestellt, und diese sind tatsächlich beeindruckend, kleinste Steinchen in verschiedenen Farbabstufungen ergeben ein Gesamtbild, das eher wie ein Gemälde wirkt. Am Abend lernten wir dann das „Nachtleben“ Anteps kennen, aufgrund mangelnder Ausgehmöglichkeiten werden hier am Wochenende lebendige Hausparties geschmissen, bei denen natürlich auch ganz normal getanzt, gequatscht und getrunken wird. Mit einem Unterschied vielleicht: In der Türkei ist man sich nicht zu schade, ab und zu einfach mal ein Lied anzustimmen, welches dann mit teilweise sehr traditionellen Instrumenten, wie zum Beispiel Flöten, begleitet wird. Eine sehr schöne Sache, besonders weil hier viele Menschen wirklich sehr schön singen können. Während dieses Abend überzeugte uns unser Host Marcello auch davon, nicht Busse von einer Stadt zur andern zu nehmen, sondern einfach das Trampen auszuprobieren. Nach anfänglicher Skepsis beschlossen wir schließlich, den Versuch zu wagen. Am nächsten Tag stand allerdings erst nochmal ein Bummel durch Gaziantep an: Die über der Stadt thronende Burg (auf die man leider nicht ganz drauf kommt) und der Basar waren unsere Ziele. Der Basar ist wirklich schön, in kleinen Stuben reihen sich nicht nur Geschäfte, sondern auch kleine Manufakturen aneinander, so dass man zuschauen kann, wie zum Beispiel Kupferteller oder Lederschuhe gefertigt werden. Hier kauften wir uns auch unsere ersten „Salvars“ - Pluderhosen! Im ganzen Osten der Türkei werden diese tatsächlich getragen, meist jedoch nur von den älteren Menschen. Die Männer tragen dabei welche aus grauem Anzugstoff, passend zu dem darüber getragenen Jackett. Für die Frauen gibt es einen ähnlichen Schnitt, allerdings in einem sehr leichten und altbacken geblümten Stoff. Es gibt einfach nichts bequemeres! Zwischen unseren Besichtigen ernährten wir uns größtenteils von Dürüm und Baklava. Antep ist dafür bekannt, das beste Baklava der Türkei zu haben, und tatsächlich muss ich zugeben, dass dieses (auch in Ankara erhältliche) Blätterteiggebäck mit Walnüssen oder – viel wichtiger – mit Pistazien nirgends so intensiv schmeckt wie hier. An unserem letzten Abend wurde noch einmal gefeiert – und zwar die Ankunft von einer „Lebensmittellieferung“ aus Georgien. Ein georgischer Freiwilliger hatte von seiner Mutter vor allem Käse, Speck und selbstgemachten Wodka geschickt bekommen, welchen in einem georgischen Abend mit viele Essen gründlich gefeiert wurde.
Am nächsten machten wir uns also in der Frühe auf den Weg um das Experiment Hitchhiking in der Türkei zu wagen. Und tatsächlich, gleich das erste Auto stoppt (so wurde es uns prophezeit) und ein netter Geschäftsmann aus der Nähe von Istanbul nimmt uns mit. Er fuhr für uns extra die Landstraße und nicht die nagelneue Autobahn, und ermöglichte uns dadurch einen kleinen Einblick in das Dorfleben der Türkei. Das war schon ziemlich faszinierend, denn zwar wusste ich natürlich vorher, dass es diese Dörfer gibt, aber dann kleine Jungen oder alte Frauen mitten in der Pampa ihre fünf Schafe oder eine Kuh hüten zu sehen, ist schon etwas anderes. Auch den Euphrat bekamen wir zu Gesicht, natürlich in Form eines Staudamms. GAP lässt grüßen.
In Sanliurfa, kurz Urfa, wurden wir von einem Freund unseres Hosts, der uns von den Leuten aus Antep empfohlen wurde, abgeholt und in die mit Grafitti verzierte Wohnung gebracht. Hier treffen sich wohl die alternativen Bewohner Urfas zum abendlichen entspannen. Wir machten uns gleich los auf Entdeckungstour durch die Stadt. Urfa ist in der ganzen Türkei für seine Religiosität bekannt und ist weniger von Türken als von Kurden und Arabern bewohnt. Die Stadt ist bezaubernd. Die komplette Architektur der Altstadt hat uns fast vergessen lassen, dass wir in der Türkei sind, viele eher haben wir uns gefühlt wie in einer Stadt aus 1001 Nacht. Verzierte Minarette ragen in der Himmeln, enge Gassen führen an sandfarbenen Häusern vorbei, verschleierte Frauen in farbenträchtigen, glitzernden Gewändern, die älteren unter ihnen mit traditionellen Gesichtstätowierungen, Männer in Pluderhosen und mit Kopftüchern - es ist schwer in Worte zu fassen, wie anders dort die Atmosphäre ist und warum. Dazu kam, dass diese wahrscheinlich wärmste Stadt der Türkei schon vollkommen grün war und die Sonne uns angenehm auf der Kopf brannte. Der Basar in Urfa ist auch der schönste, den ich bisher in der Türkei gesehen habe. Er ist genau so, wie man sich einen orientalischen Basar vorstellt, volle Läden mit allem, von Gebetsketten und anderem Schmuck über gefälschten Markenjogginghosen, selbstgefertigte Kupfergegenstände, Felle, Lebensmittel bis zu Tücher und Gewänder in allen Farben. Frauen mit Kindern auf dem Arm drängen sich dabei an Tee trinkenden Männern vorbei, Jungen üben sich in den Berufen ihrer Väter und preisen ihre Waren an, und wir stehen mit offenem Mund dazwischen. In Urfa befindet sich auch die Geburtsstätte Abrahams, so sagt man jedenfalls, und da er auch für den Islam ein wichtiger Prophet ist, ist es eine wichtige Pilgerstätte für gläubige Muslime. Familien picknicken in dem daneben angelegten wunderschönen Park mit Fischteichen, in denen gut gefütterte „heilige“ Karpfen schwimmen, daneben verschiedene wunderschöne Moscheen, darüber thront die Burg auf einem Berg. Zu dieser stiegen wir natürlich auch hinauf und genossen eine sehr schöne Aussicht über die zu dieser Jahreszeit grüne Landschaft und trafen auch gleich ein paar Östereicher. Von der Burg hinunter führt ein Tunnel mit unglaublich hohen Stufen. Neben diesen wahrhaft spirituellen Orten gibt es natürlich auch ein neues Urfa, doch auch dort ist die Atmosphäre irgendwie anders, Mädchen mit zur Schuluniform passenden rosa Kopftüchern (geht wegen dem Kopftuchverbot natürlich nur an theologischen Schulen) winken uns zu und wenn man mit ihnen auf Türkisch ein paar Worte wechselt, sind sie völlig erstaunt: „Du sprichst ja türkisch, bist du eine Türkin?“
Die Kommunikation in diesen Teilen der Türkei ist aber tatsächlich etwas schwieriger, zum einen da nicht alle Menschen hier Türkisch als Muttersprache haben und zum andern weil sie einen sehr starken Dialekt haben. Für ungeübte Ohren hört es sich wahrscheinlich mehr wie arabisch an als wie türkisch.
Von Urfa aus machten wir dann einen Tagesausflug nach Mardin, einer Stadt noch weiter im Osten, wieder per Trampen, wieder positiv überrascht, wie einfach das doch ist. Ab und zu fährt man allerdings an Polizeikontrollen und großem militärischen Aufgebot vorbei, denn grade in dieser Region findet der Kampf der türkischen Regierung gegen die PKK statt.
Mardin liegt an einer Bergkette im Norden einer riesigen grünen Ebene, die über die Grenze der Türkei hinweg vor allem Syrien und den Irak umfasst. Das hat zur Folge, dass man von den Dachterassen Mardins aus bei einem kühlen Bier einen unglaublichen Blick über eine unendliche Weite bis nach Syrien hat. Geht auch ohne Bier. Die Häuser sind wieder sandfarben und die Art, wie sich sich an den Berg quetschen, einfach schön. Wenn man auf einer dieser Dachterassen sitzt, den Klängen des Muezzin lauscht und seinen schwarzen Tee trinkt, erwartet man fast, bei einem Blick in die Ferne das Meer sehen können zu müssen. Aufgrund der Position am Berg ist das einfachste Verkehrsmittel auf dem Basar übrigens immer noch der Esel. Vollgepackt und geschmückt traben sie in den Gassen auf und ab und bringen irgendwelche Güter von einem Ort zum andern. Leider waren Esel nicht der einzige befremdliche Anblick auf dem Basar. Viel zu viele Kinder verbringen ihre Zeit, die sie eigentlich in der Schule sitzen sollten, damit, einen kleinen Laden zu hüten, häufig ohne den eigentlichen Besitzer. Aber vielleicht ist auch gar nicht so unangenehm für sie, denn ihre Freunde sitzen ja gleich im Laden nebenan...
Am Abend machten wir uns jedenfalls wieder zurück nach Urfa, um von dort am nächsten Morgen in aller Frühe nach Antakya aufzubrechen. Einen Zwischenstop machten wir dabei jedoch in Iskenderun, nachdem uns ein ausgesprochen netter Fahrer (ein wie Sky du Mont aussehender Vodafone-Vertreter) spontan einen Umweg fuhr und uns direkt dort hinbrachte, obwohl er eigentlich nach Adana wollte, und uns zum Mittagessen einlud. Aber natürlich betonte auch er, wie jeder andere Fahrer auch, dass Trampen viel zu gefährlich sei und wir das besser sein lassen sollten, da ja nicht jeder so ungefährlich sei wie sie selbst. Hach, schön dieser Zwiespalt in den Köpfen: Wir Türken sind ja ein so offenes und gastfreundliches Volk – aber diesen komischen Menschen (vor allem im Osten) solltet ihr auf keinen Fall vertrauen! Alle Männer (außer man selbst) sind gefährlich!
Iskenderun liegt am Mittelmeer, und für uns fühlte es sich wieder an, als hätten wir ein anderes Land betreten. Weg sind die vermummten Frauen, weg die Pluderhosen, dafür waren wir jetzt von Palmen und einem durch und durch mediterranen Flair umgeben. Für einen kleinen Spaziergang stationierten wir unser Gepäck in einem Restaurant, was wir aber auch erst durften, nachdem wir mehrmals den verschiedenen Zuständigen versichert hatten, dass sich keine Bomben darin befinden. Die Frage hatten sie ernst gemeint und waren sichtlich etwas beunruhigt. Nach einer Runde Entspannen an der Uferpromenade jedenfalls machten wir uns weiter auf den Weg nach Antakya, wo wir von unserem Host auch direkt abgeholt und in sein hotelartiges „Studentenwohnheim“ gebracht wurden. Hier stellten wir fest, dass wir bei politisch sehr engagierten Kurden gelandet sind, die uns auch sehr gerne Nachhilfe über die Kurdensituation in der Türkei gaben. Endlich mal Leute, die Atatürk in Frage stellen (das ist sehr weich ausgedrückt für die Verachtung, die sie verständlicherweise gegen ihn hegen) und nicht auf diesen widerlichen Personenkult stehen! Am nächsten Tag machten wir uns auf den Weg zu einer Höhle, die wohl „die erste Kirche“ darstellt, hier sollen sich die ersten Christen getroffen haben. Auf dem Weg dort hin, mitten auf einer grünen Wiese (die Umgebung von Antakya ist komplett grün) trafen wir eine alte Frau, die dort Brot backte. Warum auch immer. Auf die Frage der Jungs hin, ob sie ihr denn welches abkaufen könnten, erwiderte sie nur: „Kaufen? Natürlich nicht! Nehmt euch! Afiyet Olsun!“ (das heißt so viel wie guten Appetit, wobei es wörtlich übersetzt eher „möge es Gesundheit bringen“ bedeutet). Ich habe das Gefühl, so etwas gibt es in Deutschland einfach nicht. Dass Menschen einfach ohne Grund nett zu Fremden sind. Oder zumindest ist es in Deutschland einfach nicht so weit verbreitet wir hier. Durch die Sonne und mit einem tollen Panorama liefen wie also weiter zur Innenstadt, und ich fühlte mich sehr stark an die Kanarischen Inseln erinnert, bunte Häuser mit Flachdächern, Palmen, grüne Steilhänge, auf der Straße spielende Kinder. Auch Antakya hat wieder einen sehr schönen Basar und einen sehr schönen Park. Auch gingen wir ein zweites Mal in ein Mosaikmuseum, hier werden unter anderem auch eher kuriose Mosaike ausgestellt, so zum Beispiel der (natürlich nackte) „schwarze Fischermann“ oder der (natürlich ebenso nackte) „Glückliche Bucklige“. Sehr nett. Mit unserm Host besuchten wir dann auch eine Art Konzert in einem Jugendzentrum der linken Partei der Türkei, und lauschten gebannt der traditionellen Musik. Und dabei darf man sich jetzt nicht diesen nervigen türkischen Pop vorstellen! Gitarre, Saz (eine Art Laute), Trommeln und wunderbarer Gesang, auf Türkisch und Arabisch. Für uns ist es immer wieder unglaublich, dass Menschen sich diese Melodien tatsächlich merken können, denn der Gesang mit anderen Tonabständen und ständigen „Schnörkeln“ klingt für uns doch immer noch fremd.
Für einen Tag ging zu Ende unseres Trips auch noch nach Adana, der viertgrößten Stadt der Türkei. Die beeindruckendste Sehenswürdigkeit ist wohl die gigantische Moschee, die der reichste Mann der Türkei vor einigen Jahren hat bauen lassen. Sie ist Anlaufstelle für viele religiöse Familien, die einen Sonntagsausflug hier her machen. Das hat zur Folge, dass Kinder auf dem riesigen Teppich in der Moschee Fangen spielen und die spirituelle Atmosphäre etwas in Frage stellen – schön lebendig ist das! Etwas überrascht waren wir wieder, dass uns auch hier sehr viel Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde. In einer Stadt mit mehr als 1,5 Millionen Einwohnern hatten wir das nicht erwartet. Aber vielleicht lag es auch einfach nur wieder an unserem Gepäck, denn wenn ich es mir so recht überlege: Wenn ausländisch aussehende Menschen mit Reisegepäck durch meine liebes Heimatdorf laufen würden, würden sie auch angestarrt werden – naja, zumindest wenn sich ausnahmsweise mal jemand auf der Straße befinden würde. Nichtsdestotrotz ist das ständige „Hello!“ „Where are you from!?“ „Hello!!!“ auf Dauer doch etwas nervig. Deshalb waren wir anfangs der Stadt gegenüber etwas skeptisch. Ein leckerer Adana-Kebap, serviert von netten 10-Jährigen, munterte uns wieder etwas auf. Unsere Hosts waren eine Gruppe von Jungs und Mädels, die anscheinend noch nicht viel Erfahrung mit Couchsurfing gesammelt hatten, denn sie freuten sich tierisch über ihren ausländischen Besuch und zeigten uns stolz ihren Freunden. Etwas anstrengend, aber nagut, abends führten sie uns zu einem wunderschönen Ort, zu dem wir so vielleicht nicht gefunden hätten: Ein großer von Stadt und Bergen umgebener See, an dem man sich gerne abends trifft, sich (in meinem Fall zumindest) an den Gardasee erinnert fühlt und Sahlep trinkt. Sahlep ist ein süßes Heißgetränk, dass dort anscheinend gerne mit Schokolade und Walnussraspeln kombiniert wird – sehr lecker! Den nächsten Tag verbrachten wir vor allem damit, in der Stadt herumzuwandern, sahen weitere wunderschöne alte Moscheen mit kunstvollen Verzierungen und genossen den Blick von einer alten Steinbrücke auf die riesige Moschee.
Und dann – ja, dann wars das auch schon mit unserem Südostanatolientrip, mit dem Bus machten wir uns zurück auf den Weg nach Ankara. Zehn Tage lang sind wir in völlig unterschiedliche Welten eingetaucht. Vom modernen Ankara mit seinen grauen Bürotürmen in den Orient, zum Sonnen unter Palmen in Antakya, in eine mediterrane Großstadt mit Urlaubsfeeling und wieder zurück. Prädikat: mehr als empfehlenswert. Es ist unglaublich, was die Türkei alles zu bieten hat!