"Solidarität ist Mitgefühl / Ein Brief von Lloyd O'Connor
In seinem Brief schreibt der fiktionale Charakter Lloyd O'Connor an einen Freund über; Solidarität, nachdem Umstände ihn über dieses eine Wort in Verzweiflung stürzen...
-Ein Brief von Lloyd O’Connor an Dragomir Harris-
Hallo Dragomir,
ich schreibe in einer schwierigen Angelegenheit an dich, von der ich nicht erwartet hätte, dass sie sich so entwickeln würde, wie sie es nun tut.
In Zeiten von Facebook findet man unerwartet interessante Dinge. Weil das Schreiben meine Passion ist, fand ich etwas, dass ich grade kürzlich entdeckt habe, besonders interessant: ein Wettbewerb. Ich will dich nicht zu sehr mit Details langweilen, es ist eben ein Wettbewerb; es geht darum, eine Definition für das Wort „Solidarität“ zu finden.
Ich habe beschlossen, teilzunehmen aber hier beginnt das Problem.
Am Schönsten wäre es ja, eine Geschichte zu schreiben, deren Quintessenz, die Solidarität preist oder ein Gedicht, das ganz formvollendet ein Gefühl davon vermittelt, was das ist, die Solidarität.
Der Gedanke, dass vielleicht ein bloßes Essay über dieses Wort jemanden in Faszination versetzt oder auch nur ein bisschen nachdenklich stimmt, ist allein schon ein erhebender Gedanke für mich und meinen Ehrgeiz.
Aber - es stürzt mich in eine Krise. Du kennst mich, ich fand schon immer, dass Kunst genau das überträgt, das vermittelt, was der Kunstmachende empfindet. Und dieser Punkt treibt mich in schiere Verzweiflung. Es ist ein Wettbewerb. Ein Wettbewerb! Mein Freund: ich bin eine streitbare Person; wie soll ich bei einem Wettbewerb, unter dem Eindruck von Leistung, vom Höheren, Schnelleren und Weiteren über Solidarität schreiben? Wie soll ich es vermitteln? Ich müsste, um solidarisch zu sein ja im Grunde zuerst hingehen und aussagen, dass man bitte die Leistung aller Teilnehmenden genauso würdigt, wie die der Erstplatzierten, dass man nur nach reiflicher Überlegung seine Stimme abgibt.
Es ist ein saurer Boden, so ein Wettbewerb, wenn man davon schreiben soll, was Solidarität ausmacht... ich bin mir zumindest recht sicher, dass es kein Gegeneinander ist.
Aber ein Aufgeben kommt nicht in Frage, es wäre auch nicht sehr solidarisch gegenüber meinem künstlerisches Ego, denn es ist angereizt.
Mein Freund, dass ist die Frage, an der ich mich aufhängen möchte: was gilt es zu vermitteln?
In einem Essay hätte ich von der Solidarität als einem zerbrechlichen Kulturgut geschrieben, dass immer dann in Gefahr ist, wenn schwere Zeiten einen nur an die eigenen Krise denken lassen und nie an die von anderen. Ein Gedicht wäre wunderbar geeignet, um an das zu appellieren, was wir empfinden, wenn uns Solidarität zuteilwird und eine Geschichte würde sicherlich davon handeln, was durch gemeinschaftliches Verhalten Gutes bewirkt wird (wer würde schon ein Negativbeispiel herzeigen?).
Aber was soll dieses Ding nun sein? Die Solidarität. Ich habe zuerst ehrlich gesprochen den Duden aufgeschlagen. Es missfällt mir allein schon, dir zu schreiben. Sei bitte nicht gekränkt, ich fürchte nur, dass andere in meinem Bekanntenkreis davon erfahren; und dann - aus Solidarität - für mich stimmen. Am Ende noch, ohne die Beiträge anderer gelesen zu haben.
Wie werde ich nun diesem Begriff gerecht? Ist es irgendwas zwischen Zuneigung und Freundlichkeit? Ist es das, was uns abhandenkommt und Europa immer mehr an die Zersplitterung treibt? Ist es etwas, dass sich nur in höheren politischen Kreisen offenbart, wenn man es an so etwas, wie Europa hängt oder muss der Fokus woanders liegen?
Ist es solidarisch, gemeinsam an einem Ziel zu arbeiten? Bei dem Gedanken will es sich mir eigentlich sträuben: das wäre doch dann nur zweckdienlich; denn ‚diese Solidarität‘ überdauert den Tag nicht, an dem das Ziel erreicht wurde.
Es mag nur mein ewiger Wille sein, das Gute in den Menschen zu sehen; aber Solidarität heißt nun einmal nicht Zweckgemeinschaft.
Darum habe ich zumindest einen Gedankengang entwickelt, den ich dir zeigen will. Er beginnt mit der Frage: Wo muss also Energie aufgebracht werden?
Ja doch überall da, wo es nicht einfach von der Hand geht, wenn sogar widrige Umstände vorherrschen! Wenn ich daran denke, mein Freund, dass in einem der beiden Weltkriege (ich weiß leider nicht mehr, welcher) verfeindete Soldaten auf dem Schlachtfeld einander freundlich an Heilig Abend begegnet sind, dann denke ich an Solidarität.
Es heißt ja nicht umsonst „sich solidarisch mit jemandem zeigen“ und wenn man nun danach geht, bedingt das zwei Personen; eine die sich solidarisch zeigt und eine, bei der es den Anlass gibt, dass man sich solidarisch zeigt.
Ich fand, das mutet passend an. Jemand, der die Energie aufbringt und jemand, der in widrigen Umständen ist.
Weißt du, das sieht so perfekt aus. Dann wäre Solidarität die Bereitschaft zur Anteilnahme am Leid von anderen. Es wäre nichts Konkretes, wie zum Beispiel Zivilcourage oder Mitleid. Es wäre grundsätzlicher, eine Haltung, ein Wille. Die Basis für Kooperation und ein Miteinander. Die grundsätzliche Haltung, die eine Gesellschaft erst wert macht, darin zu leben oder Gesellschaften miteinander verbindet. Sie müsste getragen sein von jedem einzelnen Individuum.
Es wirkt so schön, wenn man darüber nachdenkt, wie ich es versuche, denn eine Haltung ist ja etwas, dass man annehmen kann. Stell dir Kooperation und Wille zum Frieden als etwas vor, zu dem man sich entscheidet! Frei! Was man mit so einer Einstellung alles erreichen könnte; allein in Europa, wenn denn alle so denken wollten.
Denn eigentlich müsste es mit der Solidarität sein, wie mit allem anderen auch: das, was man daraus macht.
Bis hier hin habe ich gedacht und ich weiß einfach nicht, ob es wirklich des Rätsels Lösung sein kann, wenigstens für mich. Die Botschaft dahinter erfüllt mein eigenes Herz; auch mit Angst; davor, dass ich mich in diesem schönen Gedanken irren könnte.
Ich werde nun jedenfalls eine Pause machen und hier etwas aufräumen, um mich solidarisch mit unserer Haushälterin zu zeigen.
Lass mich deine Gedanken zu der Sache wissen, wenn du die Zeit hast.
Beste Grüße,
Lloyd O‘Connor