Solidarität - du lässt deine Einkäufe rechts liegen, weg vom Herzen
Ohne viel vorwegzunehmen:
Eine Parabel als Lesestoff zur Katalyse deiner Gefühle
Solidarität, was ist das? Genauso könntest du mich fragen: Liebe, was ist das? Nicht die Frage nach einer konkreten Definition liefert in diesem Fall die passende Antwort, denn Definitionen gibt es viele, sondern die Frage, welches Gefühl Solidarität in mir auslöst.
Ich persönlich denke, dass Solidarität einfach ein anderes Wort für Nächstenliebe ist. Solidarität heißt, die Augen offen zu halten und für jene einzutreten, die daran gehindert sind, es für sich selbst zu tun.
Ich möchte meine Vorstellung des Gefühles der Solidarität mit dir teilen.
Wir schreiben das Jahr 2019. Die Welt ist kalt. Scheinbar zumindest. im Supermarkt. 16.29 und 22 Sekunden. Feierabend. gestresste Gesichter. ein Kranker. sitzend im Rollstuhl. Seine Miene ist verzweifelt, sein Körper gelähmt. sein Blick geht Richtung Kasse. In seinen Augen gut lesbar eine stumme Bitte. Die Kassiererin verneint. 16.29, in 7 Sekunden beginnt ihre Pausenzeit.
Du stehst da, der Kranke sitzt. Du bemerkst den kalten Luftzug, welcher einen jeden hier umgibt. Wie ein stumpfes Messer zerschneidet er den heißen, stickigen Supermarkt. Dein Blick wandert erneut zum Kranken. In seinen Augen steht Trauer, er spürt die Schnitte also auch. Dein Entschluss ist gefasst. Zügig suchst du dir den Weg aus dem heiß-kalten Labyrinth. Deinen Einkauf, welchen du dir sorgfältig auf einer Liste notiert hast, weil das alle so machen, damit sie nichts vergessen, lässt du rechts liegen. Du bietest dem Kranken deine Hilfe, er deutet daraufhin ein Nicken an. Er lächelt erschöpft. Sorgfältig entnimmst du seinen Einkauf aus dem Beutel, welcher hinten an den gepolsterten Griffen seines Rollstuhles hängt, und legst alles hintereinander auf das Fließband links von dir. Eure Blicke begegnen sich. Seiner dankbar, deiner voller Respekt.
Ein kaum wahrnehmbares Zucken verlässt seinen linken Mittelfinger, der Rollstuhl setzt sich zögerlich in Bewegung und rollt vorsichtig zur Kasse. Du bist nicht sicher, was du nun tun sollst. Der mitleidige Blick der Frau Mitte vierzig hinter dir lässt dich dein Urteil fällen. Du willst die Realität nicht so hinnehmen, wie sie ist.
Der Wettlauf an der Kasse beginnt. Schnell packst du zuerst das Schwere und anschließend das Leichte in den Beutel. Du hast Angst, dass sonst etwas kaputt gehen könnte. Die Kassiererin dreht den Fertigsalat für 3 € hin und her. Du nutzt deine Chance und gewinnst die Oberhand. 16,33 €. Sein Zeigefinger zuckt zur Brusttasche. Ein Blick zu dir. Du verstehst. Doch trotzdem überkommt dich ein ungutes Gefühl, dass er dir, einer Fremden, seine Brieftasche anvertraut, als du diese vorsichtig über das Tuch an seinem Hals, dann über seinen Kopf ziehst.
Du öffnest den filigranen Reißverschluss und versuchst zwischen dem ganzen Kleingeld einen Schein zu erhaschen. 10 €. Die restlichen 6,33 € - auf den Cent genau - erleichtern seine Brusttasche um einiges. Der Kassenbon wird gedruckt. Die Kassiererin fragt, ob er ihn haben wolle. Kaum sichtbar dreht er den Kopf zur Seite. Dir wird klar, dass er dir vertraut.
Du hängst ihm seine Brusttasche gerade wieder über, als sein linker Daumen mit einem angestrengten Schnaufen über deine rechte Hand fährt. Du siehst ihm ins Gesicht und wirst überrumpelt vom Ausdruck in seinen Augen. Sie schimmern feucht und glücklich, ein kleines Grübchen wird auf seiner linken Wange sichtbar, als er versucht sein Gesicht zu einem aufrichtigen Lächeln zu verziehen.
Sein Blick wandert zur Jackentasche über seinem Herzen. Du bist dir nicht sicher, was er möchte, doch nach einem heiseren Laut seinerseits öffnest du den feinen Reißverschluss seiner Tasche und greifst hinein. Ein einsames Karamellbonbon kommt zum Vorschein. Solche aß dein Opa auch gerne, früher, als er noch lebte. Du holst es raus, umschließt es und legst es sachte in deine linke Jackentasche.
Der alte Mann guckt dich zufrieden an und verabschiedet sich mit einem kaum erkennbaren Zucken seines Mundwinkels. Der Daumen des Mannes streckt sich der Steuerung entgegen. Die Tür ist geöffnet. Zusammen mit dem alten Mann verlässt dich auch die Ruhe wie eine platzende Seifenblase.
Heiß-kalte Schauer laufen dir den Rücken hinunter, dich überkommt eine Gänsehaut. Du schaust zur Theke rechts vor der Kasse, wo du deine Einkäufe zurückgelassen hattest, doch sie sind verschwunden. Es stört dich nicht.
Du gehst durch den Ausgang, dabei lässt du deine Einkäufe rechts liegen.
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