Schubumkehr
Endlich wieder literarisches Land in Sicht.
Sie haben es tatsächlich geschafft, mich aus der Wohnung zu vertreiben. Nachdem dort nämlich keine Besserung in Bezug auf die Netzverbindung in Sicht war, bin ich kurzerhand in die Bibliothek geflüchtet, für die ich erst seit wenigen Tagen eine Mitgliedschaft besitze. Ich will nicht sagen, dass es einzig und allein aus diesem Grund war, aber tatsächlich war es der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Nun sitze ich hier an einem wunderbaren Schreibtisch. Genau gesagt ist es eine Schreibtischecke mit einem folglich runden Tisch, dessen Länge um die drei Meter betragen dürfte. Bis zur Decke hoch erstreckt sich ein Regal, in welchem Bücher, Bilder und eine Büste stehen. Dazu noch zwei Zertifikate, die ich nicht verstehen. Jedenfalls erhielt sie die „Okresní Lidová Knihovna v Náchodě”. Links von mir liegt ein altes Buch, in welchem Adressen vermerkt sind. Im Jahre 1988 wurde das alles geschrieben. Gerne hätte ich eine solche Handschrift und gerne hätte ich Schüler, die so schreiben. Geht man weiter nach links, findet man ein Kästchen mit mehreren Schubladen, die – alphabetisch geordnet – Dokumente aus dem Jahre 1981 enthalten. Rechts von mir steht eine olivetti-LINEA-98-Schreibmaschine. Die Tasten „Q” und „A” sind heruntergedrückt. „Q” und „A”, das lässt sich zu „Qantas” machen, der australischen Fluggesellschaft. Erst heute morgen las ich von der Vision, in Zukunft Direktflüge von Perth nach London anzubieten. 17,5 Stunden wäre man dann in der Luft. Wem das wohl diene, fragte ich mich. Die olivetti hat eine zeitlose Eleganz an sich. Jeder, der mit dem Namen vertraut ist, wird verstehen, was ich meine. Grau und doch nicht vergraut, alt, aber nicht veraltet. Zumindest vom Aussehen her nicht. Mag sein, dass sie heute keiner mehr benutzt. Und doch würde sich keiner einen alten Rechner zur Dekoration neben den hochmodernen stellen. Eine Schreibmaschine dagegen? Die erinnert noch an andere Zeiten, steht auf diesem Schreibtisch wie kaum ein anderes Element für die Schönheit und Zeitlosigkeit des Schreibens.
Sie sehen, mir gefällt mein neuer Schreibtisch. Hier wird voraussichtlich die ein oder andere Zeile entstehen. Für den Moment ist zudem die Netzverbindung wichtig. Es stehen unzählige Buchstaben bereit, doch wenn mir keine Möglichkeit gegeben wird, diese mitzuteilen, werden sie in der Einsamkeit versauern. So wird der Ort, der ursprünglich zum passiven Wortgenuss gedacht war, zu einer Plattform, die vorerst herhalten muss als Vermittler einer aktiven Wortwiedergabe. Ich lese mittlerweile daheim – dass ich meine Wohnung in Náchod schon als wäre dies selbstverständlich als „daheim” bezeichne, wundert mich selbst – und schreibe in der Bibliothek. Wie bei einer Flugzeugturbine, bei welcher kurz nach der Landung die sogenannte Schubumkehr aktiviert wird, die das Flugzeug zusätzlich abbremst und auf dem Prinzip der Umlenkung des Schubs entgegen der Bewegungsrichtung basiert. Als würde man bei einem Automobil während der Vorwärtsfahrt den Rückwärtsgang einlegen. Das kann nicht funktionieren. Bei wenigen Fortbewegungsmitteln ist es technisch eben realisierbar. Übertragen auf meine gegenwärtige Situation bedeutet das, dass so eine Umstellung in Teilen möglich ist. Als Dauerlösung wäre es denkbar schade, denn dann würde die Bibliothek zum gleichen kreativen Friedhof wie mein Schlaf-, Ess-, Wohn- und Ankleidezimmer verkommen, was alles derselbe Raum ist. Wer permanent auf wenigen Quadratmetern seine freien Stunden verbringt, wird verkümmern wie ein Huhn in der Legebatterie. Zwar nicht körperlich, aber wenigstens geistig. Es sollte daher zumindest die Möglichkeit geben, sich in beiden Umgebungen mit dem Schreiben beschäftigen zu können und eine Netzverbindung zu haben, auf die man sich verlassen kann. Ansonsten gräbt man dem Schaffenden langsam sein eigenes Grab.