Reise ins Unbekannte - Von Deutschland nach Ungarn
Über Ängste, Abschiede und wie es ist, sich ins Unbekannte aufzumachen und alles Vertraute hinter sich zu lassen.
„Debrecen ist sehr flach und wie ein großes chaotisches Dorf“. Dies waren die ersten Hinweise, die ich über den Ort hörte, der für das nächste Jahr meine Heimat werden soll. Debrecziner bezeichnen gerne alles als groß. Eine Kirche heißt „die große Kirche“, der Bahnhof heißt „der große Bahnhof“ und ein Platz heißt „der große Platz“ – wirklich groß, wurde mir mitgeteilt, sei hier aber gar nichts :D
Auch wenn ich mich nun seit ein paar Tagen in der zweitgrößten Stadt Ungarns befinde, hat sie nur 208.016 Einwohner. Das ist ein Drittel derer, die in Stuttgart auf einer Hälfte der Fläche wohnen. In Ungarn leben also schon mal um einiges weniger Menschen, die Bevölkerungsdichte ist nur halb so groß, wie die in Deutschland.
Für mich wirkt das zurzeit jedoch total anders. In den letzten Tagen habe ich eine Menge neuer Menschen kennengelernt. Ungaren und noch viel mehr Freiwillige aus anderen Ländern. In diesem Land, in dem es so wenige Menschen gibt, fühl ich mich nun also überfordert zwischen all den unbekannten Personen. Wann werden sie nicht mehr unbekannt sein?
Am Anfang war die Angst. In den letzten Wochen und Tagen vor einem Abflug hatte sie mich stets leise begleitet. In vielen Momenten tauchte sie einfach plötzlich auf. Beim dem Versuch, einen Koffer für ein Jahr zu packen, nach einer gelungenen Abschiedsparty, mit welcher meine Freunde mich überrascht hatten oder wenn meine Lieblingsmenschen Pläne für das nächste Jahr machten und ich wusste, ich werde nicht dabei sein. Verrückt war das. Ich hatte dabei immer das Gefühl, ich sei ganz alleine. Wie geht es andern Freiwilligen, die sich für solch ein Abenteuer entscheiden? Wie verbringen sie ihre letzten Tage? Haben sie auch ab und zu das Gefühl, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben? Bin nur ich es, die voll Unsicherheit und Angst steckt? Das sind ein paar Fragen, die von Zeit zu Zeit in meinem Kopf herum spuken. Meine Heimat, Freunde und Familie zurück- zulassen schmerzt viel mehr, als ich es erwartet hatte, als ich mich vor einem halben Jahr für einen Freiwilligendienst in Ungarn entschieden hatte. Ich wollte über meinen eigenen Schatten springen, meinem Horizont erweitern, Neues kennenlernen. Etwas wagen war mein Plan. Je näher jedoch die Abreise rückte, um so öfter erschienen die Zweifel. Würde mir dieses Jahr wirklich so viel Erfahrung bringen, dass es sich lohnt, alles Bekannte und Geliebte zurück zu lassen? War es die richtige Entscheidung, in diesem Land an meinem Projekt teilzunehmen? Würde es Debrecen jemals schaffen sich für mich, zumindest für dieses eine Jahr, wie ein Zuhause anzufühlen? Werde ich mich verändert haben, wenn ich zurückkomme und was bedeutet diese Reise für meine Zukunft?
Ich fühlte mich, als ich am 1. August um 5:00 Uhr morgens den Flughafen erreichte, kaum mehr so mutig, wie noch vor ein paar Monaten, als ich stolz nach einem Skype Interview meine Zusage erhielt.
Dem emotionalen Abschied von meiner Mum, meinem Freund, meiner besten Freundin und meiner Zwillingsschwester folgte ein wenig Panik, während ich alleine auf meinen verspäteten Flug wartete. Erst als mein Flieger abhob und den Weg zwischen den Wolken ansteuerte, überkam mich ein berauschendes Gefühl der Freiheit und des Abenteuers. Wirklich bereit, meinen Alltag zu durchkreuzen und für ein Jahr mein Leben auf den Kopf zu stellen, bin ich trotzdem nicht. Wer kann schon wirklich verstehen, was das bedeutet, wenn er es noch nicht erlebt hat? Ich weiß zwar, dass etwas Großes auf mich zu kommt, dies tatsächlich zu begreifen, gelingt mir allerdings kaum.
Ich bin noch nie alleine geflogen, ich war noch nie alleine in einem fremden Land und ich war noch nie in Ungarn. Der 1. August war für mich ein Tag überfüllt mit Neuem, aufregend und unheimlich zu- gleich. Als mich mein Mentor und meine zukünftige Mitbewohnerin (ein fröhliches spanisches Mädchen namens Paula) am Bahnhof von Debrecen mit Küsschen links und rechts begrüßten, war ich ein wenig überfordert. Und diese Überforderung sollte auch nicht so schnell wieder verschwinden. Mein Gehirn schien an einer Überdosis neuer Erfahrungen zu leiden. Es ging direkt einmal durch die Stadt, an geschichtsträchtigen bunten Gebäuden vorbei, in meine zukünftige Wohnung, wieder in die Innenstadt zum Mittagessen, zu meinem zukünftigen Arbeitsplatz, in den Supermarkt, zum Pizza essen mit noch mehr Freiwilligen aus Italien. Und das alles auf Englisch, durchmischt mit wenigen spanischen, italienischen und ungarischen Worten. Viel zu schnell wurde ich mit Bergen von neuen Eindrücken konfrontiert, bevor ich überhaupt Zeit zum Ankommen hatte. Die nächsten Tage waren eine wilde Mischung aus Menschen von aller Welt, unzähligen Sprachen und Geschichten, Aufgaben und Herausforderungen. Es ist keine Zeit für Ruhe, mein gesamter Körper steckt Unmengen an Energie in die Verarbeitung des Unbekannten. Auch die Angst ist immer noch da. Bis jetzt ist mir kaum klar, was meine Aufgaben sein werden, ob ich das Gefühl verliere, hier nicht hin zu gehören, oder ob ich beim Mittagessen jemals etwas anderes als Salat bestellen kann:D. Das Ankommen ist nichts, was von einem auf den nächsten Tag funktioniert. Es ist schwer, sich in die Gruppe der Freiwilligen einzufinden, die sich schon Monate lang vertraut ist. Es ist anstrengend, nicht in seiner eigenen Sprache sprechen zu können und nach wenigen Tagen schon zu beginnen, in Englisch zu denken (Warum denk ich denn nicht einfach auf Deutsch? Das wäre so viel einfacher:D). Es ist kompliziert umzudenken, dass man, wenn man für ein Stück Pizza 1200HUF ausgibt, nicht sein gesamtes Gespartes auf den Kopf haut und auch 500 HUF für eine Limonade kein Wucher sind. Es ist nahezu unmöglich eine Speisekarte im Restaurant zu verstehen oder sich im Supermarkt zu verständigen, da der Großteil der Ungarischen Bevölkerung scheinbar kein Wort Englisch spricht. Es ist schmerzhaft zu begreifen, dass zwischen liebsten Freunden und einem selbst zwei halbe und ein gesamtes Land liegen.
Meine Freunde und meine Familie von daheim betonen alle, dass ich das schon schaffen werde, ich sei doch so eine fröhliche, offene Person. Aber hier fröhlich und offen zu sein ist so viel schwerer als zuhause. Ich stehe vor einer Menge Herausforderungen, die mich ans Ende meiner Kräfte bringen. Die größte davon ist, sich auf all das Neue einzulassen. Es heißt nun Schwierigkeiten zu akzeptieren und dann zu bewältigen. Neue Freundschaften zu schließen und sich nicht allzu oft in der fremden Stadt zu verirren:). Neue duftendes Essen zu testen, sich ab und zu einfach zu wagen und das Nachtleben in Ungarn zu erleben. Und schließlich zu dem Gefühl zu gelangen, sich wohl zu fühlen.
Einfach wird dies nicht werden, aber das hat auch keiner versprochen. Trotzdem, ich bin bereit mich dieser Herausforderung zu stellen und all die Verzweiflung und Verwirrung, die den Anfang noch prägen, zurückzulassen. Mein Ziel ist es schließlich, an dieser Reise zu wachsen! Es ist Zeit dem Zauber eines neuen Anfangs zu vertrauen.
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