Regen und Meer - Eine Stadt unter Wasser
"Durch heftige Regenfälle werden die Menschen in Istanbul am neunten September am Morgen im Berufsverkehr überrascht." Nur Tage zuvor besuchte Frauqui die Millionenstadt und berichtet nun.
Eine Millionenstadt, immerhin auf Platz 19 der Weltrangliste der größten Metropolregionen, wird über Nacht von einer Katastrophe überrascht, die niemand vorhergesehen hat: Durch heftige Regenfälle werden die Menschen in Istanbul am neunten September am Morgen im Berufsverkehr überrascht. Die Wassermassen überschwemmen die Stadtautobahn und drücken Kleinwagen wie Busse an die Leitplanken. Das Wasser steht mehrere Stunden lang meterhoch auf den Straßen im Westen der größten Stadt der Türkei, mindestens 31 Menschen fallen der Katastrophenflut zum Opfer.
Sechs Stunden Busfahrt entfernt, in der Hafenstadt Çanakkale nahe Troja, geht das Leben seinen gewohnten Gang. 23 Jugendliche aus sieben Nationen sitzen hier in einem Youth Hostel und basteln Puppen im Zuge eines Workshops des „Youth in Action“-Programms. Erst zwei Tage später erfahren wir Nicht-Türken durch unsere Trainer von der Katastrophe, da wir ohne Fernseher und Türkischkenntnisse nicht auf Nachrichten zugreifen können.
Vom Ausmaß des Unwetters geschockt, betrachtete ich staunend die Menschen auf den Straßen. Niemals hätte ich geahnt, dass das Land, das ich so sehr ins Herz geschlossen habe, von einem Unglück dieser Größe heimgesucht worden war. Die Bewohner Çanakkales gingen wie zuvor ihren Tagesgeschäften nach, keine Veränderung war zu spüren in der Stadt am Ägäischen Meer. Wie zuvor weckten uns Nacht für Nacht die Trommeln der Muslimen, die zu einer gemeinsamen Mahlzeit während des Ramadan aufriefen; unsere Mentoren ließen kaum mehr als ein paar Worte über die Situation in Istanbul fallen und schienen auch untereinander wenig Unterhaltungsbedarf zu haben, was dieses Thema betraf.
Ich selbst habe unwahrscheinliches Glück gehabt - den fünften und sechsten September verbrachte ich noch in der Metropole am Bosporus, am zwölften kehrte ich zurück. Trotz des anhaltenden Regens waren die meisten Bereiche der Stadt vom Wasser befreit und wieder befahrbar.
Als die Metro am Expocenter hielt, war ich entsetzt über die verheerenden Auswirkungen der Unwetter: Ganze Gebäude waren von den Wassermassen eingedrückt, massive Betonblöcke waren meterweit gespült worden, kein einziger Baum hatte genügend Widerstand leisten können.
Als ich die zerstörten Gebäude und Landschaften mit eigenen Augen sah, verstand ich noch viel weniger die Reaktionen, beziehungsweise deren Ausbleiben in der türkischen Bevölkerung außerhalb Istanbuls.
Zurück in Rumänien suchte ich im Internet nach Videobeiträgen. Menschen, die unter Wasser gedrückt werden, sich auf Busdächer retten, ihr eigenes Leben riskieren, um ein Kind zu retten. Schuhe, die unter weißen Tüchern hervorlugen, verzweifelte Menschen, die auf Nachrichten von Angehörigen warten, Freiwillige, die tagelang im Einsatz sind, um die Gegend von Gebäudetrümmern zu befreien und Menschen zu helfen, die durch die Katastrophe obdachlos wurden.
Doch anstatt diesen Menschen Aufmerksamkeit zu widmen und die herausragende Hilfsbereitschaft der Bevölkerung in dieser Notsituation zu betonen, suchen alle nur nach dem Sündenbock. Wie konnten heftige Regenfälle allein solche verheerenden Ausmaße nach sich ziehen? Wieso war die türkische Regierung nicht vorbereitet?
Als Grund werden die illegalen mehrstöckigen Bauten am Flussufer des Bosporus genannt, durch die die Infrastruktur der Stadt massiv beeinträchtigt und der Boden weniger aufnahmefähig für die Wassermassen wurde. Politiker halten ausschweifende Reden und ganze Pressekonferenzen über die zu ziehenden Konsequenzen, beschuldigen sich gegenseitig und die Bevölkerung, die sich ohne Bauerlaubnis den Wohnbedingungen der mit rasender Geschwindigkeit wachsenden Stadt anpassen.
Nachrichtenmagazine auf der ganzen Welt suchen weiter nach Verantwortlichen und den Gründen für das Unglück in Istanbul. Ich persönlich möchte aber vor allen Dingen dazu aufrufen, die Menschen hinter den Nachrichten zu sehen. Den Jedermann, der über Nacht zum Helden wurde, ohne, dass ihm dafür irgendjemand Respekt zollen würde oder jemals wird. Humanitäre Katastrophen sind viel mehr als Politik eine beeindruckende Demonstration dessen, wozu Menschen fähig sind.
Der Spirit der vergangenen Tage in Istanbul sollte uns nachdenklich machen und uns daran erinnern, dass das Leben zu kurz für unnötige Emotionen wie Neid, Habgier und Missgunst ist. Wenn man einfach mal mit einem Lächeln auf den Lippen durch die Straßen geht, sieht man die Welt sofort mit anderen Augen. Und wenn alle darüber nachdenken würden, bräuchten wir vielleicht irgendwann keine Katastrophen mehr, um wahre Menschlichkeit zu finden.
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