Quo vadis, Kosovo? III
Die jüngste Demokratie der Welt blickt auf eine ungewisse Zukunft: Streitigkeiten mit dem serbischen Nachbarn lähmen den politischen Alltag, junge Kosovaren zieht es in Scharen Richtung Westeuropa, nach den Parlamentswahlen sprechen die Wahlsieger offen vom Anschluss an Albanien. Über einen kleinen Staat im Herzen des Balkans, welcher immer noch weltweit von 79 anderen Ländern nicht anerkannt wird, sich lieber heute als morgen mit der EU-Mitgliedschaft auszeichnen wollen würde und zu einem Risikofaktor für die gesamte Region erwachsen könnte.
Es war der 12. Juni im Jahre 1999, der Euro beflügelte schrittweise die europäische Idee, die Bundesrepublik feierte noch unter Kanzler Gerhard Schröder ihr 50-jähriges Bestehen, als deutsche Soldaten erstmals wieder seit Ende des Zweiten Weltkrieges schwerbewaffnet und mit Panzern ausgestattet nicht-deutsches Territorium betraten. Unbestritten stand jene unter Obhut der NATO laufende KFOR-Mission im Kosovo unter anderen Vorzeichen als das letzte Auftreten der deutschen Armee im Ausland vor rund 80 Jahren. Unverändert kritisch äußerste sich hingegen die breite deutsche Öffentlichkeit kurz nachdem die Bundeswehr die mazedonische Grenze überschritten und sich ins von unmenschlichen Gräueltaten gezeichnete Kosovo stürzte. Da geisterten Bilder der 40 erschossenen und aufgereihten Zivilisten des Massakers von Raçak durch die deutsche Medienlandschaft, Hunderttausende flohen in hoffnungslosen Karawanen Richtung europäisches Ausland, die beiden - nur einen Tag nach der Ankunft deutscher Soldaten im Kriegsgebiet - erschossenen Stern-Reporter Gabriel Grüner und Volker Krämer verdeutlichten anderen Medienschaffenden das Konfliktpotenzial dieser ungewissen Auslandsmission. In dieser Gemengelage ethnischen Hasses übertrug sich die internationale Staatengemeinschaft die ungeheure Verantwortung, Stabilität und demokratisch-humanitäre Verhältnisse im umkämpften Kosovo zu schaffen, damals sehr wahrscheinlich noch ohne die bloße Vorstellung, der Einsatz könnte durch schwere Vorwürfe sowie dilettantisches Versagen gezeichnet und selbst 21 Jahre später noch nicht beendet sein.
Demokratie auf Knopfdruck oder Wie der Westen im Kosovo scheiterte
Begibt man sich auf die Suche nach Ursachen für die gegenwärtige, von Instabilität und Ungewissheit gezeichnete innenpolitische Lage im kleinen Balkanstaat, muss sich die Aufmerksamkeit ganz besonders auf die Zeit zwischen den umstrittenen NATO-Bombardements im März 1999 sowie der kosovarischen Unabhängigkeitserklärung von 2008 richten. Beendeten die über jugoslawischen Großstädten abgeworfenen Bomben zwar das agressive Vorgehen Belgrads unter Slobodan Milošević im Kosovo, stürzte sich die internationale Staatengemeinschaft andererseits als Folge in ein kaum lösbares Abenteuer mit ungewissem Ausgang. So wird bis heute die Gretchenfrage heiß diskutiert, inwieweit sich die NATO-Mission in einem legalen Rahmen bewegte. Leidenschaftlich argumentieren daher Gegner, dass sich die Bombardierungen auf keinen Beschluss des UN-Sicherheitsrates stützen konnten. Wie schnell sich die beteiligten Akteure dennoch beide Hände verbrennen sollten, zeigte sich mit fortschreitender Zeit.
Kaum dass die letzten serbischen Panzer kosovarischen Boden verlassen hatten, breitete sich unter Obhut der UNMIK (United Nations Interim Administration Mission in Kosovo) ein undurchsichtiges Netz an mehreren hundert Nicht-Regierungsorganisationen und international geleiteten Institutionen aus; die KFOR-Truppen sollten als bewaffneter Arm der UNMIK zum Aufbau einer gesamtkosovarischen Verwaltung Beitrag leisten. Das in fünf Sektoren (deutschen Soldaten wurde das Gebiet um die historische Stadt Prizren zugewiesen) aufgeteilte Kosovo verwandelte sich schrittweise in ein kaum überlebensfähiges UN-Protektorat, auch ob die phasenweise bis zu hunderttausend an der Friedensmission beteiligten Expats ihren hochgesteckten Zielen dabei gerecht wurden, sei dahingestellt. Im Unrecht waren die unzufriedenen Einwohner jedoch nicht, wenn sie das internationale Engagement mit den kolonialen Herrschern vergangener Jahrhunderte verglichen. Zeuge dieser negativen Stimmung kann jeder werden, der sich nur auf einen Streifzug durch die Straßen der Hauptstadt Priština begibt, kaum zu übersehen sind jene kritischen Graffitis à la "Eulex, Go Home!".
"Ob die phasenweise bis zu hunderttausend an der Friedensmission beteiligten Expats ihren hochgesteckten Zielen gerecht wurden, sei dahingestellt."
Denn zur Wahrheit der kostspieligen Intervention des Westens gehört auch, dass das „Experiment Kosovo“ unverändert ökonomisch am Abgrund balanciert und so seiner Bevölkerung keineswegs eine vielversprechende Zukunftsperspektive eröffnen kann. Zwar ruht in den gebirgigen Landschaftszügen eines der größten Braunkohlevorkommen Europas, dennoch leidet der rohstoffreiche Kosovo unverändert an Strommangel, ist von Importen aus Serbien und Nord-Mazedonien abhängig, blickt weltweit auf eine der schlechtesten Handelsbilanzen, welcher noch eine der höchsten Fruchtbarkeitsraten auf europäischem Boden gegenübersteht. Dass die UNMIK trotz einer 33 Milliarden Euro schweren Aufbauhilfe (womit der Einsatz teurer ist als die Missionen im Sudan und Afghanistan) die einzigen beiden Kraftwerke im Kosovo nie vollständig in Betrieb nehmen konnte, spricht für sich. Schlimmer noch - das Kraftwerk A wurde unlängst von der Weltbank als „die schlimmste einzelne Emissionsquelle in Europa“ bezeichnet. In Zeiten des Klimawandels, wenn erneuerbare Energiequellen dem Kohleabbau den Rang ablaufen werden, droht das Kosovo auch hier den Anschluss an zukünftige Entwicklungen zu verpassen.
Neben dem fehlenden Versprechen, Phasen des wirtschaftlichen Wachstums garantieren zu können, konnte sich im Kosovo wie in kaum einem anderen Staat Europas eine durch Korruption und schmutzige Geschäfte geprägte Herrschaftselite etablieren. Interessant ist daher die Frage, wie sich das dauerhaft unter Aufsicht der Vereinten Nationen stehende Kosovo zu einem Drehkreuz für Waffenschmuggel und Heroinhandel nach Westeuropa entwickeln konnte? Offensichtlich schien die NATO keinerlei Probleme in der Unterstützung der proalbanischen „Befreiungsarmee des Kosovo“ (kurz UÇK) zu sehen, die sich schweren Vorwürfen hinsichtlich verschiedener Kriegsverbrechen gegen serbische Zivilisten ausgesetzt sieht; dass die USA die als terroristisch eingestuften Rebellen der UÇK im Kosovokrieg mit Waffen ausstattete und in Militärcamps ausbildete, schien insgeheim die anfänglichen kriminellen Machenschaften nur zu akzeptieren - auch dass sich die kosovarischen Separatisten über dubiose Drogengeschäfte und den Handel mit Organen serbischer Gefangener finanzierten, war offensichtlich nur von zweitrangiger Bedeutung.
"Wie konnte sich das dauerhaft unter Aufsicht der Vereinten Nationen stehende Kosovo zu einem Drehkreuz für Waffenschmuggel und Heroinhandel nach Westeuropa entwickeln?"
So häuften sich bereits in der Vergangenheit Berichte über schwere Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen gegen den derzeitigen Staatspräsidenten Hashim Thaçi aus seiner Zeit als UÇK-Kommandeur; der inzwischen zurückgetretene Ministerpräsident Ramush Haradinaj wurde 2005 in 37 Fällen vom Internationalen Strafgerichtshof angeklagt, wenig überraschend jedoch 2008 freigesprochen, nachdem fast alle vorgeladenen Zeugen „zufällig“ auf fragwürdige Weise aus dem Leben schieden. Konnten die Ankläger wirklich von einem fairen Prozess ausgehen, wenn im Laufe der Gerichtsverhandlungen reihenweise Zeugen von Jeeps überfahren, erstochen, auf offener Straße erschossen wurden? Lächerlich zeigte sich das UN-Kriegsverbrechertribunal auch im Zuge des zweiten Verfahrens gegen den von Chefanklägerin Carla Del Ponte bezeichneten „Gangster in Uniform“ Haradinaj, wieder endeten die Verhandlungen 2012 mit seinem Freispruch, wieder einmal offenbarte sich die EULEX und der Strafgerichtshof weder in der Lage, für den Schutz der Zeugen zu sorgen, noch die Verbrechen im Kosovo vollständig aufzuarbeiten. Damit ist diese Geschichte noch lang nicht beendet - im Juli letzten Jahres folgte für Haradinaj die dritte Vorladung nach Den Haag, in welche Richtung sich der Prozess im dritten Anlauf bewegt, steht noch in den Sternen. Untergegangen ist in diesem Meer an Meldungen wahrscheinlich auch das ungeklärte Ende des „Kronzeugen X“. Seine Aussagen vor Gericht gegen den ehemaligen kosovarischen Minister Limaj hätten wesentlich zur Aufklärung der Kriegsverbrechen im Kosovo beitragen können, doch bevor er sein Wissen vor Gericht teilen konnte, wurde der unter EULEX-Zeugenschutzprogramm stehende Mann im September 2011 tot am Essenberger See in Duisburg gefunden.
"Konnten die Ankläger wirklich einen fairen Prozess erwarten, wenn reihenweise Zeugen von Jeeps überfahren, erstochen, auf offener Straße erschossen wurden?"
Was zeigen nun diese Fälle von Intrigen und internationalem Versagen? Eine Basis für einen demokratischen Neuaufbau auf kosovarischem Boden war von Beginn an verbarrikadiert, ehemalige Offiziere der offiziell 1999 aufgelösten UÇK festigten schrittweise ihre Positionen im neuen Staat, weiteten ihre politische Machtfülle aus und bereicherten sich über Verbindungen zum organisierten Schmuggel von Heroin und Waffen. Zugeben wird es die UNO wahrscheinlich nur höchst ungern, trotzdem war der zögerliche Staatsaubau im Kosovo eine reine Kopfgeburt, glaubhafte Chancen auf einen Neuanfang zersetzt. Umso interessanter war in dieser Hinsicht das überraschende Ergebnis der vorgezogenen Parlamentswahlen im letztjährigen Oktober, mit welcher die regierenden Parteien der alten UÇK-Elite abgewählt und den sich auf Modernisierung berufenden Oppositionsparteien das Vertrauen in die Zukunft übergeben wurde. Stehen die Kosovaren vor einem richtungsweisenden Aufbruch nach vorn?