Quo vadis, Kosovo? II
Die jüngste Demokratie der Welt blickt auf eine ungewisse Zukunft: Streitigkeiten mit dem serbischen Nachbarn lähmen den politischen Alltag, junge Kosovaren zieht es in Scharen Richtung Westeuropa, nach den Parlamentswahlen sprechen die Wahlsieger offen vom Anschluss an Albanien. Über einen kleinen Staat im Herzen des Balkans, welcher immer noch weltweit von 79 anderen Ländern nicht anerkannt wird, sich lieber heute als morgen mit der EU-Mitgliedschaft auszeichnen wollen würde und zu einem Risikofaktor für die gesamte Region erwachsen könnte.
Mitte Januar des noch jungen Jahres 2018, die winterliche Kälte hat die nordkosovarische Stadt Mitrovica fest in ihrem Griff, beenden fünf Kugeln, abgefeuert von Unbekannten, das Schaffen des kosovo-serbischen Politikers Oliver Ivanović schlagartig. Nicht, dass die Umstände des feigen Mordes überraschen, bewaffnete Überfälle zwischen verfeindeten Clans und Mafiabanden sind nach wiederholten Brand- und Granatanschlägen im Nordes des Kosovos zu einer alltäglichen Routine aus Hass und Gesetzlosigkeit verkommen. Vielmehr sind jene schicksalhaften Morgenstunden als Attacke auf die moderaten Köpfe im Konflikt zwischen Priština und Belgrad zu bewerten; mit Ivanović verliert die Region einen glaubhaften Brückenbauer, dessen Ermordung den Weg für weitere unvorhersehbare Spannungen ebnen sollte. Wenn Ivanović als lokaler Vermittler gerade nicht damit beschäftigt war, den Ausgleich zwischen albanischer sowie serbischer Seite voranzutreiben, legte er sich nur allzu gern mit der serbischen Regierung um Ministerpräsident Vučić an. War der Mord also vielleicht viel mehr als ein persönlicher Racheakt? Ein überzeugendes Argument liefert der Gesprächsabbruch zwischen Vertretern Serbiens und des Kosovos in Brüssel – ganz zufällig war für jenen Tag auch ein erneuter Vermittlungsversuch zwischen beiden Konfliktparteien vorgesehen.
Schon die Liste an Übergriffen allein in Mitrovica liest sich ähnlich einem Drehbuch für gewaltgeladene Actionfilme. Anfang Januar 2017 zerriss ein frontal platzierter Sprengsatz vor dem zukünftigen gesamtkosovarischen Gerichtsgebäude jegliche Annäherungsversuche, im Sommer nächsten Jahres erreichte die Welle an Hass völlig neue Dimensionen als erst Ivanovićs Auto gesprengt wurde und später noch das Hauptquartier seiner Partei in Flammen aufging. Stehen vielleicht sogar die Hauseinbrüche und Morddrohungen gegen seine Ehefrau im Zusammenhang mit der vorherigen Ankündigung, doch wieder zur Wahl anzutreten? "Sie haben alles getan, was sie bisher konnten, abgesehen davon, dass sie mich noch nicht erschossen haben", resümierte Ivanović bereits während eines Interviews im November 2017 – und sollte rund zwei Monate vor seiner Ermordung recht behalten.
Entgegen aller Erwartungen, die auf den ersten Blick für eine gezielte Attacke der albanisch-kosovarischen Seite sprechen, geriet Ivanović zunehmend in Konflikte mit der serbischen Regierung in Belgrad und kritisierte im Vorfeld der Lokalwahlen das provozierende Auftreten serbischer Politiker im Kosovo. Sollte sich der erschreckende Verdacht bestätigen, dass der Oppositionspolitiker als Mittel zum Zweck ermordet wurde, um die ohnehin angespannte Situation weiter anzuheizen, käme dies einem politischen Skandal ungeheuren Ausmaßes gleich. Begibt man sich tiefer in den Sumpf gegenseitiger Schuldvorwürfe, bleiben nur zwei Fragen unbeantwortet: Würde es mit Serbien ein offizieller EU-Beitrittskandidat wagen, unter Mitwissen die Ermordung eines unliebsamen Politikers in Kauf zu nehmen, um jene Tat schließlich für eigene Zwecke zu instrumentalisieren? Würden andererseits proalbanische Extremisten eine erneute militärische Konfrontation mit dem serbischen Nachbarn wirklich heraufbeschwören wollen? "Wir werden die Armee schicken, um Serben vor ihrer potenziellen Ermordung zu schützen", drohte so unlängst der ehemalige serbische Präsident Tomislav Nikolić. Der Auftakt zu einem neuen Strudel gegenseitiger Provokationen war nach jenem 16. Januar perfekt.
"I don't believe we'll ever find out who killed Oliver. Not because they can't do it, but because they don't have the will to do it. There will always be other interests trying to shut it down."
Miroslav Ivanović, Bruder des erschossenen Oliver Ivanović, wenig optimistisch gegenüber der "Irish Today"
Bereits die Gemeindewahlen 2013 wurden durch bürgerkriegsähnliche Zustände überschattet: serbische Extremisten stürmten mehrere Wahllokale in Mitrovica, verprügelten Wähler und demolierten die Wahlurnen. Die erhoffte Wirkung sollte sich voll und ganz entfalten; die für ungültig befundenen Wahlen wurden mit einer erschreckend geringen Wahlbeteiligung von 18% wiederholt – zu groß war die psychisch-physische Einschüchterung. Vor diesem Hintergrund scheint auch das Attentat auf den albanischen Wahlkandidaten Bekim Birinxhiku im kosovarischen Skënderaj alles andere als ein unglücklicher Zufall. Wie steht es also um die Demokratie in einem Land, welches sich lieber heute als morgen in der Europäischen Union sehen würde?
Aufbruch ins Ungewisse
Seitdem sich das Kosovo im Februar 2008 per Unabhängigkeitserklärung von Serbien endgültig lossagte, kann sich keine der involvierten Konfliktparteien als endgültige Siegerin im serbisch-kosovarischen Territorialstreit fühlen. Während sich das Kosovo in den letzten zwölf Jahren aufgrund der Verstrickung von korrupten Politikern und einer eklatanten ökonomischen Lage den ruf als das "Armenhaus" Europas erarbeitete, scheint die bedingungslose Anerkennung für den serbischen Nachbarn so gut wie ausgeschlossen – eine der letzten großen Hürden in Richtung des angestrebten Ziels, 28. Mitgliedsstaat der Europäischen Union zu werden. Auch scheint die EU selbst an ihrer bisher schwersten außenpolitischen Bewährungsprobe zu scheitern; ein Armutszeugnis für die lähmenden Haltungen in Brüssel, Belgrad und Priština. "Ich bin stolz, dass die EU durch Hilfszusagen von 500 Millionen Euro deutlich macht, dass das Kosovo eine zutiefst europäische Angelegenheit ist", unterstrich der ehemalige EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn noch nach der ersten Geberkonferenz 2008. Die unverblümte Realität im Jahr 2020 zeigt, dass trotz jeglicher Milliardenhilfen rund ein Drittel der kosovarischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt, vor allem junge Arbeitskräfte verlassen das Land scharenweise in Richtung Westeuropa. Im Sommer letzten Jahres mussten sich selbst die treuesten Unterstützer der größten und mit einem Jahresbudget von 63 Millionen Euro teuersten Auslandsmission der EU (EU-Rechtsstaatsmission im Kosovo, kurz EULEX) nach einer Häufung schwerer Korruptionsvorwürfen und ohne merkliche Verbesserungen nach zehn Jahren ein erfolgloses Ende eingestehen; selten trat das Unvermögen der Brüsseler Diplomatie im kosovarischen Abenteuer so deutlich hervor als beim Aufbau eines funktionsfähigen Rechtsstaates im jüngsten Staat auf europäischem Boden. Eine “europäische Angelegenheit” - zumindest eine mit vielversprechender Zukunftsaussicht – sieht anders aus.
Auch von einem angestrebten friedlichen Zusammenleben in multireligiöser Atmosphäre scheint das Kosovo weiterhin genauso weit entfernt wie von einer vollständigen Anerkennung durch die gesamte internationale Staatengemeinschaft. Immer noch bewachen die Soldaten der unter Obhut der NATO gebildeten KFOR-Mission jene serbisch-orthodoxe Klosteranlage "Visoki Dečani" im Westen Kosovos, die seit 1999 bereits mehrfach Opfer gezielter religiös-nationalistischer Anschläge albanischer Extremisten wurde. Möglichkeiten zur verstärkten Integration der serbischen Minderheit – immerhin leben noch rund 130.000 vordergründig im Norden des Landes – sind dabei genauso fern wie nachhaltige Schritte, um der offensichtlichen Entstehung einer albanisch-serbischen Parallelgesellschaft entgegenzuwirken. So werden jene ethnischen Serben, die ihre Grundstücke noch nicht verkauft haben und ins serbische Kernland ausgewandert sind, durch finanzielle Zuschüsse aus Belgrad zum Bleiben ermuntert; ein Leben am Existenzminimum, über die historische Landschaft in mehrere Enklaven zerstreut, leben so die letzten verbliebenen Serben mit eigenem Gesundheitssystem, eigenen Schulen und von der Belgrader Regierung bezahlten Renten isoliert unter der mehrheitlich albanischen Bevölkerung.
Umso fraglicher erscheinen die internationalen Schlichtungsversuche, wenn man sich die Worte der ehemaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen aus dem Jahr 2014 wieder ins Gedächtnis ruft: "Ich kann die Mission im Kosovo als Beispiel dafür nehmen, dass und wie es gelingen kann, in einem Land, wo die Bevölkerung tief gespalten war, einen sicheren Weg zu einer inklusiven Gesellschaft zu bauen."
Die Normalität des Absurden
Wie zerstritten Serben und Kosovo-Albaner entgegen von der Leyens Worte tatsächlich sind, wird eben vor allem in Mitrovica deutlich, jener verhängnisvollen Stadt, wo Ivanović Opfer seiner politischen Tätigkeit wurde. Symbol für die de facto Teilung ist die städtische Hauptbrücke über den Fluss Ibër, welche Mitrovica in einen serbischen Nord- sowie albanischen Südteil trennt; statt zu verbinden, verkörpert sie seit dem Ende des Kosovokrieges 1999 wie kaum ein anderer Ort die nationale Sprengkraft und verhärteten Fronten dieses schier auswegslosen Konfliktes. Nur allzu oft entlud sich an diesem Knotenpunkt bereits die gegenseitige Ablehnung in Form von gewalttätigen Krawallen und Provokationen. Jüngstes Beispiel war eine meterlang auf serbischer Seite errichtete Mauer als "Schutzmaßnahme", um den Rest des Landes vor vollendete Tatsachen zu stellen – wohlwissend, dass jene Aktion Anstoß zu weiteren Eskalationen sein könnte. Wollte Europa doch 1989 jubeltrunken das Ende von Abgrenzung und Mauern einleiten, droht es 30 Jahre später hier in Mitrovica keine nachhaltigen Lösungsansätze bieten zu können und – schlimmer noch – seine Stimme in der gesamten Region zu verlieren.
"Ich kann die Mission im Kosovo als Beispiel dafür nehmen, dass und wie es gelingen kann, in einem Land, wo die Bevölkerung tief gespalten war, einen sicheren Weg zu einer inklusiven Gesellschaft zu bauen."
Eine mehr als fragwürdige Einschätzung unserer ehemaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen aus dem Jahr 2014
Denn seit die Waffen offiziell mit der im Juni 1999 gebilligten 'Resolution 1244' unter dem Deckmantel der Vereinten Nationen schweigen, steht das Kosovo innenpolitisch auf unsicheren Beinen da. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei ernüchternden 55%, zieht man dazu noch in Betracht, dass über die Hälfte der knapp zwei Millionen Einwohner unter 25 Jahren alt ist (was das Kosovo übrigens zum Staat mit der jüngsten Bevölkerung Europas macht), wird das ganze Ausmaß der Perspektivlosigkeit offensichtlich. Zu den bereits während des Krieges gegen Ende der 1990er Jahre geflohenen Hunderttausenden reihen sich verstärkt seit 2014 wieder zehntausende kosovarische Migranten ein, ohne große Hoffnung auf eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung beantragten so allein 2015 mehr als 30.000 Kosovaren Asyl auf deutschem Boden. Zahlen, die gleichzeitig alarmieren und in Erinnerung rufen sollten, dass der von Krieg, Hoffnungslosigkeit und organisierter Kriminalität geprägte Balkanstaat mehr denn je neben militärischer Unterstützung der Vergangenheit vor allem auf humanitären Beistand angewiesen ist – keineswegs hilfreich geschweige denn notwendig sind daher Aussagen der bayerischen Regierung um CSU-Politiker Marcel Huber hinsichtlich eines "missbrauchten Asylrechts", noch weniger die diffamierenden Worte Thomas Karmasins, der unlängst kosovarische Geflüchtete in populistischer Mundart als "Winterurlauber auf Kosten des deutschen Steuerzahlers" bezeichnete. Sätze, die sprachlos machen, liegt die Sozialhilfe im Kosovo beispielsweise für eine Familie mit zwei Kindern doch bei nur rund 80 Euro im Monat! Ein Blick in die jüngere Vergangenheit auf dem Amselfeld beweist zudem, dass die internationalen Bündnisse genauso wie die westeuropäischen Staaten nicht ganz unbeteiligt sind an der gegenwärtigen Lage in einem Staat, am Rande Europas gelegen, der auf eine ungewisse Zukunft blickt und dessen weitere Entwicklung über Phasen des Friedens oder der Konfrontation auf dem Kontinent entscheiden wird.