Planlos Wandern durch Moldawien – Orhei
Das letzte Ausflugsziel in diesem Jahr soll das berühmte Kloster von Orhei sein, beschließt Lockenjule. Von einem Kloster fehlt bei ihrer Wanderung dann aber jede Spur - die Gegend war trotzdem den Besuch wert.
Als letztes Ausflugsziel in diesem Jahr hatte ich mir vorgenommen, das in Moldawien sehr berühmte Kloster von Orhei zu besuchen. Daher machten wir uns gestern Morgen (Sonntag, den 13. Dezember… mein 3-Monate-in Moldawien-Jubiläum!) auf zum zentralen Busbahnhof, von wo aus Minibusse in alle Himmelsrichtungen fahren. Am Tag zuvor hatten wir uns bei anderen Freiwilligen, die schon dort gewesen waren, nach der Anfahrt erkundigt… und wie von diesen prophezeit kamen uns mindestens drei ältere Herren mit goldenen oder gar keinen Zähnen und schwarzer Schiebermütze entgegen und brüllten "La Orhei, la Orhei, la Orhei!".
Wir wählten also einen der Busse aus, stiegen ein und wurden innerhalb von 30 Minuten ins nicht weit entfernte Orhei transportiert. Ein Freiwilliger hatte uns noch den Tipp gegeben, nicht bis zum Ende mitzufahren, sondern zwischendurch auszusteigen, sobald wir neben uns einen Fluss sähen. Und an diesem entlang zu wandern und so zum Kloster zu gelangen. Leider verpassten wir die Gelegenheit, den Fahrer ums Anhalten zu bitten; allerdings war die Endhaltestelle nicht weit davon entfernt - und so liefen wir eben (mit einigen Umwegen, bedingt durch fehlende Ortskenntnis) zu dem Punkt zurück, wo die Straße über besagten Fluss führte. Da standen wir also, und hatten keine Ahnung, in welche Richtung wir gehen sollten und auf welche Seite des Flusses.
Wir entschieden uns für die in diesem Moment landschaftlich reizvollste und bergigste Richtung und auch für die felsigste Seite, deren Aussehen mich ein wenig an die Fotos erinnerte, die ich von anderen schon da gewesenen Freiwilligen kannte. Und dann begann die Wanderung, die Erkundung, die Suche.
Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Wir haben hundert schöne Plätze gefunden – Höhlen, traumhafte Spätherbstlandschaften, wunderbare Aussichten, Unmengen fotowürdige Momente - aber kein in den Berg gehauenes Kloster. Was, wie wir leider erst danach erfuhren, auch gar nicht möglich gewesen war. Es gibt nämlich zwei "Orheis", eines mit dem Zusatz "Vechi", und dahin hätten wir einen Bus nehmen müssen. Nun ja, blöd gelaufen; aber wer vom Weg abkommt, lernt bekanntlich die Gegend kennen.
Und die war so wunderbar friedlich, unberührt… weder für Touristen präpariert noch von der Bevölkerung verschmutzt, schlichtweg in stiller Einsamkeit. Und wir mittendrin, immer dem Fluss folgend. Wir kletterten auf die umliegenden Felsen, genossen die allmählich erfrierende Dezemberlandschaft, machten unzählige Fotos. Wir stiegen in eine Höhle, wo Bewohner der nahe gelegenen Ortschaft wo mal Steine zum Häuserbau heraus gebrochen haben mussten, betrachteten alte, knorrige, verlassen auf der Bergspitze stehende Trauerweiden, umgeben von kleinen dornigen Gewächsen, die hartnäckig dem nahenden Winter und seinem eisigen Wind strotzten. Wir fanden, zwischen Hügeln versteckt, eine winzige Orthodoxe Kirche, nicht größer als ein kleines Zimmer; mit silber-metallenem Dach, dessen Dachstuhl jedoch nur aus Kuhmist und Ästen bestand. Leider war die Kirche mit einem riesigen rostigen Schloss verschlossen. Aber das am Boden herausquellen Stroh ließ bei uns die Vorstellung erwachsen, dass Maria nicht etwa in Bethlehem, sondern hier ihr Kind zur Welt gebracht hatte.
Nach eineinhalb Wanderstunden erreichten wir ein anderes Dorf, um das sich der Fluss wand. Wir durchquerten das friedliche Örtchen und standen wieder am Flussufer. Vor uns ein Berg, dessen Felsmassiv sich vollkommen von allen anderen Felsen unterschied. Es sah aus, als hätte jemand diesen Berg dort fallen lassen und vergessen. Auf seiner Spitze stand ein weißes Kreuz. In der Mitte öffnete sich, wie ein Mund, eine kleine Höhle, vielleicht eine Pilgerstätte.
Um zum Fuße des Berges zu gelangen, mussten wir allerdings irgendwie den Fluss überqueren. Da entdeckten wir weit entfernt eine schon aus dieser Entfernung abenteuerlich aussehende Brücke. Ich stand der Überquerung äußerst skeptisch gegenüber, wollte ich doch gern lebendig wieder zuhause ankommen, aber Ingrid wollte unbedingt auf die andere Seite des Flusses. Also marschierten wir zu diesem gefährlichen Gestell. Tatsächlich bestand die Hängebrücke nur aus vier Drahtseilen und alten, ziemlich morsch aussehenden Brettern. Ich ließ Ingrid den Vortritt, mit den Worten, dass ich sie nicht aus dem Fluss ziehen würde, wenn sie einbrach, und dass sie meine Eltern lieb von mir grüßen sollte, falls nur sie überlebte. Wir tapsten also die schwankende, ächzende Brücke entlang (ich versuchte alle Bretter auszulassen, die schon unter dem Gewicht der schmächtigen Ingrid gewaltig nachgaben), bis wir etwa zu zwei Dritteln den Fluss überquert hatten. Plötzlich blieb Ingrid stehen. "Oh, Julia, the rest of the bridge is missing!" Tatsächlich, ab jetzt gab es nur noch vier Drahtseile, zwei oben, zwei unten, und keine Bretter mehr als Boden. Ich entschied mich ohne weiteres Nachdenken dafür, dass Abenteuer zu wagen, und mich an den Seilen entlang zu hangeln. Immer noch besser, als noch mal über die Brücke zurückzumüssen.
Wie man sieht, habe ich überlebt, ebenso Ingrid. Als Belohnung standen wir dann direkt vor dem Berg mit Mund, stiegen allerdings nicht in die Höhle, da wir ja eigentlich noch das Kloster finden wollten. Wir traten dann aber doch auf dieser Seite des Flusses den Rückweg an, weil es etwa eineinhalb Stunden später dunkel sein würde und wir bis dahin irgendwie den Busbahnhof und vor allem das Städtchen selbst wieder finden mussten. Wir liefen also in schnellem Schritt ein Stück zurück entlang des Flusses, immer querfeldein. Auf einmal jedoch merkte ich, wie der Boden unter meinen Füßen nach jedem Schritt nachgab. Ingrid und ich standen mitten in einem Moor. Zu unserem sehr großen Glück war dies jedoch gerade dabei zu frieren, weswegen wir mit schnellen kleinen Sprüngen heil davon kamen.
Leider standen wir kurz darauf (nachdem wir heil an einer Herde neugierig glotzender Kühe vorbeigekommen waren) vor einem Arm des Flusses, zu dessen Überquerung leider keine Brücke vorgesehen war. Nach einigen Wanderminuten fanden wir jedoch eine Engstelle, an der wir mit einem großen Satz über das Flüsschen kamen. Dann erreichten wir eine Straße, sogar ein wenig befestigt. Wir entschieden uns, ihr zu folgen und so vielleicht wieder nach Orhei zu gelangen. Kurz darauf erblickten wir dann auch einige hundert Meter entfernt eine größere Querstraße, die relativ befahren war und höchstwahrscheinlich direkt nach Orhei führte. Plötzlich entdeckten wir in weiter Ferne auf dieser Straße einen Minibus. Wir begannen zu rennen, vielleicht würden wir ihn ja noch erwischen.
Gerade wollten wir uns enttäuscht darüber aufregen, dass wir ihn nicht bekommen hatten, als direkt neben uns ein kleines weißes Auto hielt. Drinnen ein breit grinsender mittelalter Herr, der uns auf Russisch anwies, schnell einzusteigen, er würde uns dann nach Orhei bringen. Glück muss man haben, und nette Leute muss es geben. Nachdem ich dann zum dritten Mal auf seine Frage, woher wir kämen, antwortete, wir möchten bitte zur Bushaltestelle nach Orhei (dann fiel mir endlich mein Fehler auf), ließ er uns auch schon wieder raus; neben ein paar Kleinbussen, die ins Stadtinnere führten. Wir bedankten und überschwänglich und auch er antwortete auf einmal mit "Dankeschön!". Es ist immer wieder verwunderlich, wie viele Männer, die ehemals in der Sowjetarmee waren, noch Deutsch können.
Wir entschieden uns, wieder mal völlig ahnungslos, willkürlich für einen Minibus, der uns vielleicht in die Nähe des Busbahnhofs bringen würde. Ingrid fragte den Fahrer in ihrem brillianten Rumänisch, ob er auch zum Busbahnhof fahre, und er verneinte grinsend. Ach, dachten wir uns, wir würden schon irgendwie ankommen. Eine Minute später jedoch hielt der Bus an, der Busfahrer winkte uns zu sich und stieg mit uns gemeinsam aus. Er hielt für uns einen andren Minibus an, der wohl zum Busbahnhof fuhr, und wies den Fahrer an, uns dorthin zu bringen. Nette Menschen scheint es in Orhei wirklich viele zu geben. Wir stiegen dankend ein und kamen nach einer (wirklich) netten kleinen Stadtrundfahrt direkt beim Busbahnhof an. Dort stiegen wir dann in einen Bus Richtung Chisinau und waren wieder Zuhause, als es gerade richtig dunkel war.
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