Ostern International: Zu Besuch in London
Ein langes Wochenende in Englands Hauptstadt ist Johannsons neuestes Highlight. Zusammen mit einer Meute von 10 Leuten aus aller Welt wurde ihm das volle touristische Programm geboten. Dabei half stetiger Kaffeekonsum, die Folgen der ach so kurzen Nächte zu überwinden.
Ich bin wieder zurück aus London, zurück auf der Farm. Nach den letzten beiden atemlosen Berichten kann ich Euch diesmal mit etwas Durchdachtem versorgen. Auch wenn es schon wieder so spät ist. Man sollte schreiben während man erlebt. Wenn ich jetzt das Wochenende rekapituliere, liegt so eine Art Glasmauer zwischen mir und dem Erlebten, und ich vergesse bereits so viele wichtige Eindrücke.
Sperren und Hindernisse
Nur einige Stunden nach den letzten Worten des vormaligen Eintrags bin ich wieder aufgewacht. Es war Donnerstag und es sollte zu Oktavia nach London gehen. Vormittags war ich noch arbeiten, wobei mein Vorgesetzter seinem Vorgesetzten (und ich vermeide lieber die Namen) fast an den Hals gesprungen wäre.
Wir haben drüben bei Seaham eine Stahl-Schranke als Zufahrtssperre zu einem Feld eingebaut, um Motorräder und Allradwagen von unseren Wiesen fernzuhalten. Dafür hatten wir Tags zuvor schon die beiden Löcher gegraben, in die wir jetzt nur noch die Pfähle stellen wollten. Als wir dann ankamen wurde uns mitgeteilt, dass wir (nach unser beider Meinung auf klare Anweisung hin) an der falschen Stelle gebuddelt hätten, daher die Löcher wieder zuschaufeln und neue graben müssten.
Nun ja, sagen wir mal, mein Chef war etwas entnervt. Zum Glück ging das schneller als erwartet, und ich hatte nach der Rückkehr zur Farm genug Zeit zum Packen. In der Situation war ich froh, für eine Weile verschwinden zu können, wer weiß, was als nächstes passiert...
Im Großstadt-Dschungel
Also, Sachen ins Auto, mich selbst ins Auto, Auto nach Durham, alles in den Zug und ab nach London. Schlafen konnte ich natürlich wieder nicht, aber zumindest einige Polnisch-Vokabeln wiederholen, wozu ich in letzter Zeit ja kaum komme. Drei Stunden bin ich gefahren, aber keine Angst, diesmal beschreibe ich nicht jede Meile. Beeindruckend fand ich allerdings, dass wir eine halbe Stunde lang durch die Stadt gefahren sind, bevor wir am Zielbahnhof ankamen. Und das war, weiß Gott, kein Bummelzug.
Von Londons King’s Cross aus ging es dann hinaus in die große Stadt, den großen Koffer lautstark hinter mir herrollend auf der Suche nach der U-Bahn. Das war gar nicht so einfach. Es gab so circa zehn verschiedene Eingänge zu ihr, und meiner war natürlich auf der anderen Seite einer Hauptstrasse außerhalb des Bahnhofes hinter einer Baustelle versteckt und nur durch einen weiten Bogen über mehrere Ampeln zu erreichen. Nun ja, irgendwann bin ich auch da angekommen...
Schon etwas überwältigt, nach sieben Monaten auf einmal zwischen zwanzig Millionen Menschen geschmissen, krampfhaft mein Portemonnaie festhaltend und alle fünf Sekunden die Reißverschlüsse meines Rucksacks kontrollieren. „Passt auf Eure Sachen auf!“ war das Erste und Wichtigste, was sie uns auf meinem ersten Trip nach London vor drei Jahren eingebläut hatten...
Verschiedene Standpunkte
So brauchte ich für die vier Stopps bis zur Station Liverpool Street doch eine halbe Stunde, was mich aber immer noch mehr als pünktlich machte. Nachdem ich mich wieder ans Tageslicht gekämpft hatte, rief ich wie vereinbart Oktavia an, die mich trotz aller Versicherungen meinerseits, die Wohnung auch allein finden zu können, unbedingt abholen wollte. Auch, wenn sie dafür eine halbe Stunde von ihrer Arbeit verschwinden musste.
Ich mag das nicht, wenn andere Leute sich wegen mir Mühe machen (selbst wenn ich mich, wie in diesem Fall, nicht bedanken muss). Ich mag es viel mehr, meinen eigenen Weg zu finden. Das ist viel aufregender, vor allem wenn man eine spezifische Wohnung in London finden soll. Ich mag Verreisen.
Nachdem ich versuchte, meinen Standpunkt zu beschreiben, blaffte Oktavia erstmal nur etwas geschockt „Warum bist du da?!“ Einige Missverständnisse später trafen wir uns dann doch, einfach nur einmal um den Block, vor einem Supermarkt. Sie tauchte auf einmal auf, als ich gerade ein Brötchen im Mund und das Handy in der Hand hatte und nicht einmal „Hallo“ sagen konnte.
Adam und Eva
So wurde ich zu ihrer Wohnung geführt. Die liegt fast direkt im Zentrum der Stadt, unglaublich nah an der Themse – zur Tower Bridge sind es vielleicht zwanzig Minuten Fußweg. Es ist mir absolut unklar, wie eine gemeinnützige Organisation dort zwei recht geräumige Wohnungen besitzen kann. Aber, nun ja, umso besser für uns. Meine Gastgeberin hat mich bald wieder verlassen, aber nicht bevor sie mir ihr Zimmer gezeigt und etwas Zeit zum Abladen und Ausruhen gegeben hatte.
Danach wurde ich der Obhut der einzigen, zurzeit anwesenden Kolleginnen übergeben. Das war Sara, eine Dänin in meinem Alter (zumindest schätze ich das, aber im Moment lieg ich im Durchschnitt immer fünf Jahre zu tief), mit der Oktavia wohl noch einige Sachen zu klären hat. Zum Beispiel, dass sie auch einen ganzen Strauß Gäste angekündigt habe, allerdings auf den letzten Drücker. Außerdem hatte sie gerade Oktavias Teller verkauft, nun ja. Im Moment waren erst zwei ihrer Gäste anwesend, beide aus Hastings. Das waren Adam, ein Ägypter, der zurzeit arabisch-englische Übersetzung studiert, und Eva (haha), eine zuckersüße kleine Spanierin. Die waren auch gerade erst angekommen, und so wurden wir alle drei erstmal auf einen kleinen Spaziergang entlang der Themse mitgenommen, wobei uns von Sara die Geschichte jedes Steins erklärt wurde. Das hat uns bis gegen halb neun beschäftigt, wonach wir noch Abendessen gekauft haben.
Internationales Spätschoppen
Wieder zu Hause haben wir das Eingekaufte so langsam vor uns hin verspeist, bis gegen zehn auch Oktavia wieder zurückkam. In der Zwischenzeit war schon wieder eine ganze Ladung neuer Leute angekommen. Und ich hoffe, mein Gedächtnis lässt mich nicht im Stich – allerdings: selbst wenn, Ihr würdet es ja nicht merken…
Da war Kristina, auch aus Spanien, ebenfalls eine Kollegin meiner Gastgeberin. Mit ihr waren Lola (Spanien), Wan-Schien (Korea) und Akiko (Japan), alle drei Gäste aus Norwich. Und wir waren noch längst nicht voll. Irgendwann ist von irgendwoher noch Matthieu, Kristinas französischer Freund aufgetaucht. Also, man fühlte sich nicht einsam.
Was haben wir an diesem Abend noch gemacht? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht mehr. Wahrscheinlich zu lange aufgeblieben und immense Mengen Wein getrunken. Aus meiner geh-zu-einer-verantwortbaren-Zeit-schlafen-du-bist-eh-schon-übermüdet-und-hast-ein-langes-Wochenende-zu-überstehen-Absicht wurde jedenfalls nichts. Aber Oktavia und ich haben noch lange geredet, über Schokoladenriegel und Nutella und alles Mögliche. Ich erfuhr, dass Nils, der Schwede und Englischprimus von den Trainings, sein Projekt abgebrochen hat. Und dass ich am Anfang einen mega-mäßigen deutschen Akzent gehabt habe.
Freitag: Noch mehr Freunde
Am viel zu frühen nächsten Morgen fiel dann aus Zeitgründen auch ein schneller Gang zum Supermarkt für Croissants aus (keine Zeit für Stil da unten), weil gegen elf zwei Freundinnen von Oktavia angekündigt waren. Eine davon kannte ich flüchtig von den Trainings, die andere war mir neu, und ohnehin hatte ich nicht viel damit zu tun. Die drei haben ihren anstehenden Urlaub in Irland besprochen, während ich auf einem Bett lag, aus ihren deutschen Reiseführer übersetzte und ansonsten Polnisch rezitierte, wo ich das gemeinsame Zischen schon einmal im Hintergrund hatte. Die nennen ihre Enten „katschka“. Klingt süß, oder? Madzia ma kaczka :-)
Was ich beruhigend fand: auch sie sind noch nicht soviel gereist.
Summer in the city
Da die beiden auch nicht direkt aus der Stadt waren, folgte irgendwann ein netter kleiner Spaziergang; an St. Paul’s Cathedral vorbei und entlang der Themse. Diesmal bei Tageslicht und einer nicht zu zählenden Menschenmenge. Wie es scheint, habe ich wieder den richtigen Zeitpunkt gewählt, die Farm zu verlassen. Denn hier oben war es grau und nass und kalt, während ich im schönsten Sommersonnenschein am Ufer promenierte, vorbei an vollen Cafés und Straßenkünstlern. Zum ersten Mal seit Monaten nur noch mit einem T-Shirt am Leib.
Ich liebe den Sommer in der Stadt. Für den Rückweg haben wir die Seite gewechselt und sind außerdem über einen kleinen Buchmarkt gestolpert und haben noch mehr singende, malende oder stillstehende Straßenkünstler getroffen, wobei die mir meist auf den Geist gingen. Nur eine Stelle war ziemlich cool, wo einer mit seiner Gitarre eine wirklich bizarre Musik spielte, zu der sich zwei Mischungen aus Helge Schneider und Elvis auf noch viel absurdere Weise bewegten.
Wiesen und Eiswagen entlang der Promenade, Glasbauten strahlten in der Sonne und wir gingen über die Tower Bridge wieder zurück zur Wohnung, immer schneller werdend, weil Anna, eine der beiden anderen Polinnen, einen Bus kriegen wollte. Dummerweise sind wir beiden dann im Laufschritt vorgeprescht und haben uns natürlich etwas verlaufen, was uns entscheidende Minuten kostete. Auch wenn ich bezweifle, dass sie es sonst noch bis zur Victoria Station geschafft hatte. Aber egal, es stellte sich als minder schlimm heraus, eine spätere Linie zu nehmen.
Elf Freunde sollt ihr sein
Mit Beata sind wir noch in ein sehr gemütliches Café nur ein paar Strassen weiter gegangen, auf dem Weg von zigtausenden arbeitslosen Jugendlichen auf Werbetour für andere Bars und Restaurants belästigt. Danach verließ uns auch Beata, und wir haben nur noch fix was zum Abendessen besorgt. Wieder zu Hause stellten wir fest, dass wir überhaupt nicht hungrig waren, und haben es bei einem leichten Essen nach meiner Vorstellung belassen: Datteln, Brot, Käse und Wein.
Später kam Sara mit so ziemlich allen bisher erwähnten Leuten zurück, zu denen sich inzwischen noch Tomas aus Tschechien und Kristine aus Dänemark gesellt hatten. Elf Mann insgesamt, damit war es dann richtig voll. Die haben dann richtig gekocht und gebacken, große Pizzas für alle und mehr Wein. So saßen wir alle im Wohnzimmer und tauschten die üblichen Fragen nach woher und wie lang aus. Merkwürdig, auf einmal war ich einer der alten. Außer mir und Oktavia war niemand länger als drei Monate im Land. Was manchmal ein Problem war. Ich weiß nicht, ob ich so undeutlich spreche oder die anderen noch nicht so gut verstehen, aber oft musste ich Sachen dreimal wiederholen. In Deutsch bin ich das ja gewohnt, aber in Englisch...
Ich bin so froh, dass ich zumindest ein Jahr hier bleiben kann. Tomas ist erst im Februar gekommen und wird trotzdem fünf Tage vor mir wieder zu Hause sein.
London und seine Clubs
Irgendwann gegen Mitternacht wurde entschieden auszugehen, und ich bin, trotz besseren Wissens, mit. Nach einigem Suchen und Problemen mit Türstehern, weil eine Schwedin ihren Ausweis vergessen hatte, sind wir in einem kleinen Club gelandet, wo wir netterweise sogar Gruppenrabatt bekamen. Eklige R’n’B Musik, wie ja in so ziemlich jedem Club heutzutage; Musik, die mich immer zu Gewalt animiert. Zum Glück war ich schon genug vom Alkohol beeinflusst, um es zu ertragen und nach einer Weile sogar zu tanzen. Das ging bis zwei oder so, jedenfalls bin ich um halb drei in mein Bett gekippt.
Sonnabend: Portobello Road
Samstag wollten Oktavia und ich eigentlich einen Spaziergang durch Greenwich machen, haben uns dann aber doch Sara und dem Rest angeschlossen, die nach Notting Hill zur Portobello Road gefahren sind. Leider mit dem Bus, was uns, ich glaub, zwei Stunden gekostet hat.
Grund dafür war das gute Wetter, bei dem man aus einem Doppeldecker einen recht guten Blick auf so ziemlich alle Sehenswürdigkeiten hatte. Was für ein Trubel auf dem Markt. Es hat uns einiges Hin und her und Suchen gekostet, bis wir einen bestimmten Startpunkt gefunden haben, wo wir Adam und Eva wieder trafen, die in der Zwischenzeit irgendwas in der spanischen Botschaft erledigt hatten. Danach ging’s über den Markt, vorbei an den malerischen Fassaden und den zusammen gekauert in Hauseingängen liegenden Menschen. Ich hab mich ziemlich schnell abgesondert, da ich an den meistens Ständen nur vorbeigeschlendert bin und sowieso schneller war als die anderen.
Alibabas Marktschrecken
Diese wuselnden Touristenplätze machen mich immer wahnsinnig nervös. Immerzu hab ich das Gefühl, dass mir gerade jemand das Portemonnaie aus dem Rucksack klaut. Ansonsten aber natürlich sehr schön. Ich hab eine wundervolle Bäckerei gefunden, die mir ein halbwegs vernünftiges Osterbrot (Mischbrotteig, jeeha!) und zwei Croissants für fast fünf Pfund verkauft haben. Später kam ich an einem sehr netten Stand für (das erste Mal in den letzten drei Berichten, falls das jemandem nicht aufgefallen ist) Käse vorbei. Dort habe ich einen „Tommé de irgendwas“ gekauft. Ich hab es sogar auf Französisch bestellt, nachdem ich als eingeborener Engländer den Akzent der Leute sofort erkannt hatte.
Während ich noch stolz auf meine sieben raus gequälten Worte war, wurde ich von hinten von einer Frau auf mein offenes Rucksackfach angesprochen. Wovon ich wusste, weil ich es selbst gerade geöffnet hatte, um an mein Portemonnaie zu kommen. Ich würde in zwei Sekunden bestohlen sein? Alles Wertvolle hielt ich in meiner Hand! Ich komm aus Easington Colliery! Mich schreckt Portobello Market nicht!
Babylonischer Sprachaustausch
Einen Lunch später machte ich mich langsam auf den Rückweg, als ich plötzlich die Gruppe direkt neben mir entdeckte. So sind wir zusammen zurückgefahren. Oh jemine, mein Gedächtnis... was haben wir nur danach gemacht? Ich weiß es gar nicht mehr. Ich glaub, wir waren alle ziemlich müde, und ich hab mich ein Stündchen aufs Ohr gelegt.
Dinner, mehr Wein, langer Abend, Gespräche...ich hab wieder meine Fähigkeit bewundert, in einem Haufen Trubel vollkommen unberührt zu sitzen. Hier hab ich Oktavia das einzige Mal wirklich gelöst gesehen, als sie mit Tomas die Ähnlichkeiten ihrer Sprachen entdeckte.
Ich hab mich später irgendwann auch noch ziemlich gut unterhalten, als wir die Schimpfwörter verschiedenster Sprachen sammelten. Ich kann das jetzt sogar auf Arabisch und Japanisch. Wenn das nicht der interkulturelle Austausch ist für den uns die EU fördert...
Schöner wohnen und leben
Mir hat die Wohnung sehr gefallen. Diese angenehme Improvisation von spärlicher Einrichtung, in meiner Vorstellung typisch für Studentenbuden. Nun ja, was ja auch die meisten sind oder kürzlich noch waren. Ein Altbau mit Deckenverzierungen und einem Kamin, das Wohnzimmer vornehmlich aus einem Tisch und zwei mit Decken überzogenen Sofas bestehend. Die Fenster mit Bettlaken als Vorhängen, ein Fernseher mit Videorecorder auf einer kleinen Kommode. Auf allen Schränken kleine Teelichter und Lampen mit selbst gemachten Schirmen, selbst gefertigt auch ein großes Bild an der Wand. Weinflaschen überall; leere und halbleere, halbvolle und volle, deren Anzahl sich rasch vermehrte. Dazu natürlich die Mano Chao Pflicht-CD.
Ich fand das äußerst gemütlich. Und mit unseren Spanierinnen wurde die Laune immer am Maximum gehalten. Ich wünschte, ich wäre ein Spanier. Ich wäre immer froh, würde zusammen mit Landsleuten zu jedem Lied mitsingen und in der Küche tanzen, durch die Gegend schreien und Trinksprüche grölen.
London bei Nacht
Diese Nacht sind wir nicht ausgegangen, und ich hoffte schon auf eine halbwegs christliche Bettzeit. Ich bin naiv. Oktavia und einige andere – einschließlich mir – gingen später noch einmal zur Themse, dutzende Fotos machen. Vor allem Tomas hat den Speicherchip seiner Digitalkamera bestimmt vollgemacht – manchmal sogar mit Bildern von Anweisungen auf der Strasse. Zuerst Bilder der Tower Bridge von einer anderen Brücke aus und später über sie selbst zurück.
Wusstet ihr, dass Londons Brücken nachts rot angestrahlt werden? Das sieht echt toll aus. Noch viel ungewohnter sind die vollkommen leeren Strassen. Mir wurde erzählt, um Mitternacht macht die U-Bahn zu, aber dass kann ich kaum glauben. Sogar in Berlin fährt sie nachts noch.
Ich hab mich etwas mit Lola unterhalten, die von meinem Alter geschockt war. Gerade mal 20! Und sie hat Recht: ich selbst kann nur zwei Jahre jüngere Leute kaum ernst nehmen. Die war auch so eine Psychologiestudentin… Das Programm ist voll davon.
Konsumverzicht
Wieder zu spät ins Bett, wieder viel zu früh raus. Oktavia fragte mich, was ich in der Nacht außer Schlafen denn tun wolle, nachdem ich genau so etwas vermutet hatte.
Sonntag wollte ich eigentlich mit ihr zu einer katholischen Ostermesse gehen, bin dann aber zu spät aufgewacht. Auf dem sonstigen Programm standen gleich zwei Märkte. Zuerst der Spitalfield Market, gleich im Innenhof unseres Häuserblocks. Das war sehr interessant, auch wenn wir nicht lange geblieben sind. Die hatten ebenfalls schöne Bäckereien und Feinkostläden, dass einem der Zahn tropfte. Ich hab mir aber nur ein paar Feigen besorgt.
Danach sind wir zum Camden Market los (Ihr seht, uns wurde das volle Touristenprogramm geboten), wo an sich das gleiche passierte wie am Vortag. Ich hab mich durch die Massen bis ans hinterste Ende gekämpft, wo ich vom letzten Mal noch eine halbwegs ruhige Ecke in Erinnerung hatte. Dort machte ich ein wenig Pause, ohnehin nicht groß in der Stimmung für Einkäufe, zumal ich ja auch gar nichts suchte. Angesehen hab ich mir nur einige Musikläden und bin dann wieder zurück geschlendert.
Die letzte Stunde bis zum vereinbarten Treffen hab ich mich in ein Starbucks Café gesetzt und einige Karten geschrieben. Das war recht entspannend, wenn auch zunehmend kalt. Nur das Ende war ein Drama, als ich noch mal schnell aufs Klo wollte. Ha, die hatten nur eins – und davor war eine Schlange. Ich hab mich trotzdem angestellt und frustriert gewartet. Quälend langsam kam man voran, weil manche Ewigkeiten brauchten. Manchmal fragte ich mich, ob die sich gleich Möbel liefern lassen.
Das hätte ich mir sparen können, denn wieder vereint sind wir auch gleich ins nächste Café marschiert. Für unsere Spanier muss es echt komisch sein in dieser Stadt. Man hört mehr Spanisch als Englisch, wirklich. In diesem Laden konnten sie sogar in ihrer Muttersprache bestellen und mit spanischem Geld zahlen, weil die Kellnerin auch von dort kam. Oktavia meinte, dass man auch eine ganze Menge Polen trifft, was mir zwar nicht so stark aufgefallen ist, aber auch schon des Öfteren passierte.
Moderne Religion
Ich weiß nicht mehr, wann wir den Markt verließen, aber danach kam noch mal das volle Sightseeing-Programm. Wir stiegen am Rand des Hyde-Parks wieder aus dem Bus und liefen die Oxford Street Richtung Trafalgar Square. Das dauerte Ewigkeiten. Aber einige interessante Dinge sah ich. In einem Buchladen hab ich Alice im Wunderland gekauft, auch aus dieser Collector’s-Library-Reihe mit diesem Cover, das Jenny in Edinburgh als das Schönste beschrieb, was sie je gesehen hat.
Was ich als absolut nervtötend empfand waren diese christlichen Missionare und Prediger überall. Werden die aus Amerika importiert? Hab gehört, die schicken sie in alle Welt. Beim letzten Mal sind sie mir jedenfalls noch nicht aufgefallen. Gleich am Anfang stand einer mit einem Megaphon, ungehört auf die Menschenmassen einredend, während vor mir eine Einkaufstüte mit der dicken Aufschrift FAITH aus einer Modeboutique tanzte. Einige Schritte weiter wartete etwas wirklich Bizarres: ein christlicher Rapper. Dummerweise war der einzige wirkliche Reim, den er hatte „Sinner“ und „Winner“ (Sünder und Gewinner), den er dafür auch in jeder zweiten Zeile einbaute. Zumindest glaube ich, dass er rappen wollte.
Der inkompetenten Umsetzung zum Trotz regen mich diese Leute ziemlich auf. Nicht nur, weil es verblendete Fanatiker sind, sondern vor allem wegen ihrer Respektlosigkeit. Während die halbe Welt gegen islamische Radikale vorgeht, stellen sich diese Leute mit Lautsprechern in die tiefsten Muslim- und Sikh-Bezirke. Wie kann man so etwas in einer Stadt wie London machen, in der so ziemlich jede Philosophie und Religion angesiedelt ist, die sich ohnehin zum Teil nicht ganz grün sind?
Schotten, Rikschas und Kaffeekonsum
Einmal kam eine Rikscha an uns vorbei, und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich zwei Asiaten auf dem Rücksitz und einen Weißen vorne Strampeln.
Kurz nach dem letzten Seelenfänger sah ich das wahrscheinlich einzige Original in der gesamten langen Strasse. Da stand ein alter Schotte mit weißem Haar, Kilt und Dudelsack. So etwas kann man nicht fälschen oder? Ob es traurig war, dass er da stand? Er sah recht fröhlich aus.
Irgendwann sind wir am Trafalgar Square angekommen, wo wieder Fotos gemacht wurden. Von dort ging es weiter zum Leicester Square, drei Ecken weiter. Mir ist zum ersten Mal aufgefallen, wo das ist! Ich bin schon mehrere Male drüber spaziert, denkend „netter kleiner Park, gut um sich mal hinzusetzen“, aber mir wäre nie im Traum in den Sinn gekommen, dass das winzige Ding dieser bekannte Platz sein könnte.
Dort haben wir im nächsten Starbucks wieder etwas Koffein in uns reingeschüttet. In den letzten Wochen ist mein Kaffeekonsum wirklich explodiert. Gerade in London gab es morgens Kaffee, unterwegs Kaffee, abends Kaffee und zwischendurch auch. Zugegebenermaßen war das auch nötig.
Fast hätten wir uns dort verloren, aber sind dann doch gemeinsam durch beginnendes Nieseln auf die Suche nach einem Bus gegangen. Hinter dem mussten wir dann noch hinterher rennen, zum Glück mit Erfolg. Abschließend zu Westminster Abbey, Big Ben und den Houses of Parliament – und dann heimwärts.
Geburtstagsfeier
Wieder zu Hause wurde dann etwas Besonderes vorbereitet: eine kleine Feier für Tomas’ anstehenden Geburtstag. Das war cool. Oktavia hat „Happy Birthday Tomas“ aus Zeitungen geschnitten und es an die Wohnzimmerwand geklebt, es gab einen Kuchen und wir haben alle etwas auf eine Karte geschrieben, während der Empfänger solange in die Küche zum Abwaschen befohlen wurde. So ein Spaß! Und wieder wurden hunderte Fotos gemacht.
Danach gab es ein wahnsinnig leckeres Dinner, bei dem sich die Spanierinnen so richtig ins Zeug gelegt haben. Was hatten wir nur alles auf dem Tisch stehen: einen Salat mit exzellentem Dressing, ein anbetungswürdiges Gericht aus Blumenkohl und Ei (glaub ich zumindest), die Koreanerin hat äußerst leckere chinesische Tortellini gemacht – und selbst gemachter Sangria!
An diesem Abend wollten wir auch wieder etwas ausgehen, und sind so eineinhalb Stunden durch die Stadt gezogen. Aber so was: fast alles war zu. Die Läden, die offen hatten, waren mit einer ewig langen Schlange und Preisen für die oberen Zehntausend gesegnet. Alles andere war geschlossen oder war in den letzten Atemzügen, so mussten wir unverrichteter Dinge wieder zurück.
Montag: Enttäuschungen & Abschiede
Fast war ich froh drüber, denn am nächsten Tag wollte ich mit Oktavia zu ihrer Arbeitsstelle gehen, um mir die einmal anzugucken. Sie arbeitet in einem Wohnprojekt für Alkoholiker und ist dort scheinbar äußerst beliebt; sie kann sogar ein zweites Jahr bleiben.
Es hat mich wirklich interessiert was andere so machen. Aber natürlich ist das ausgefallen. Wir sind zwar zusammen aufgestanden, aber dann mussten sie und ihre Kollegin noch etwas einkaufen und die Fährräder nehmen, was für mich natürlich nicht möglich war. Ich meine, okay, vielleicht hätte ich nur im Weg herumgestanden, aber ich war ziemlich enttäuscht.
Ich bin wieder in mein Bett gekrochen und hab bis Mittag weiter geschlummert, denn für diesen Tag war nichts weiter geplant, da alle Gäste nach und nach abreisten. Ich hasse Abschiede. Es ist wirklich komisch, dass man niemanden von diesen Leuten je wieder sehen wird. So leer war die Wohnung, plötzlich so ruhig und verlassen. Nur die Schwedin mit dem immer vergessenen Namen (ich glaub, die hieß auch Eva – aber ich hab ohnehin eine Lösung gefunden: nenn einfach jeden „mate“), Tomas und Eva waren noch da. Zusammen haben wir uns auf eine letzte Tour durch London aufgemacht, da die beiden letzteren noch Buckingham Palace sehen wollten.
Abtreten mit Stil
Wir sind gelaufen, noch einmal vorbei an St. Paul’s Cathedral und Richtung Covent Gardens, zu denen wir aber nicht mehr gekommen sind. Auf dem Weg kamen wir nämlich durch eine Art Einkaufs- oder Café-Arkaden, die mir noch vom letzten Mal als netter Zwischenstopp im Gedächtnis waren.
In einem kleinen Café unterhalb einer Balustrade spielte ein Streich-Quintett ein sehr schönes Stück, was ich kannte, aber mir namensmäßig nie merken konnte. Die Schwedin meinte, es sei Pachelbel, ich hatte an Beethoven gedacht – aber schließlich war sie diejenige mit einem Jahr Musikstudium. Da mussten wir erstmal stehen bleiben, so nett war es. Komisch, auf einmal mit Leuten zusammen zu leben, die Kultur schätzen.
Dadurch konnten wir aber nur noch zum Palast selbst gehen, was wir auch gemacht haben, zwischen den vielen Parks davor hindurch, entlang der langen Prachtstrasse. So konnten Tomas und Eva ihn auch endlich mal sehen, letztere war etwas enttäuscht, da auf jeder Seite nur eines statt beider Wachhäuschen besetzt war.
Die letzte Chance
Aber dann. Bald darauf verließ uns Eva, die Schwedin, und lief zu Fuß zu ihrer Wohnung im südlichen London. Wir verbliebenen drei gingen zurück zum Trafalgar Square und nahmen einen Bus zurück zur Liverpool Street Station und von dort zur Wohnung, wo es bis auf Matthieu immer noch leer und verlassen war.
Tomas und Eva haben sich gleich wieder verabschiedet und ließen mich noch melancholischer in leeren Räumen an einem letzten Wochenend-Nachmittag zurück, an dem die Sonne durch die Fenster scheint und ansonsten nichts passiert. Ihr wisst, was ich über Sommerabende geschrieben habe.
Aber ich machte mich ja auch bald auf den Weg, meine Sachen lagen schon gepackt in Oktavias Zimmer. Sie selbst kehrte aus irgendeinem Grund nicht rechtzeitig zurück. Und so hinterließ ich nur noch eine kurze Nachricht auf ihren Tisch und meine Grüsse bei der gerade eingetroffenen Sara. Ich hätte ihr gerne noch persönlich Tschüss gesagt.
Abschiedsschmerz
Den Weg zurück, der Koffer laut rollend hinter mir, Liverpool Street Station, King’s Cross, eine lange Schlange vor dem Bahnsteig, in den Zug... Diese leichte Traurigkeit nach einem Abschied, den man als endgültig vermutet. Auch, wenn man weiß, dass man so flüchtig gekannte Leute schnell wieder vergisst.
Trotzdem war das Gefühl fast ein wenig schmerzhaft und ich wollte nicht wirklich zurück, noch nicht. Meinem Heißhunger für Stadt und Menschen war doch gerade erst ein Appetithappen vorgeworfen worden. Wie soll das erst werden, wenn ich alleine auf dem Flughafen sitze? Mit viel Zeit zum Nachdenken und wissend, dass ich alles, alle Leute und alle Dinge zum letzten Mal sehe und höre?
Nach vier Tagen Alkohol und Schlafentzug machte ich aber sehr schnell die Augen zu, dieses Mal ohne Sorgen um einen Sitzplatz. Aus irgendeinem Grund musste ich in Darlington wieder umsteigen, obwohl der Zug aus London selbst nach Durham weiterfuhr. Zehn Minuten auf dem kalten Bahnhof und dann in eine Bummelbahn; zumindest musste ich nicht Bus fahren.
Auf der Farm hatte mich mein Bett schnell wieder. Oh, wie schön: nach einer provisorischen Reparatur haben wir wieder warmes Wasser, auch wenn immer noch irgendwas gemacht werden muss. Scheinbar ist was mit der Ölleitung kaputt und der Boiler läuft zurzeit mit Diesel, wonach auch der ganze Heizungsraum riecht, sodass wir unsere Wäsche momentan im Büro trocknen.
Potholes
So bin ich nun wieder hier, im Nebel und in der Kälte, und mein Körper wieder ordentlich vergiftet. Das sollte sich aber bald erledigt haben, denn die letzten beiden Tage wurden wir gleich in richtige Arbeit geworfen: potholes.
Der ganze Weg runter zur Farm ist voll mit Schlaglöchern und wir füllen sie, vom Anfang bis zum Ende. Morgens Erde und Werkzeuge auf den Hänger, und hoch den Weg mit dem Quad-bike. Abends wieder runter, nachdem wir erschreckend wenig vorangekommen sind. Aber wir lernen. Unsere Mischung hält an einigen Stellen ziemlich gut, auch wenn es an anderen einfach zum Verzweifeln ist. Man stampft und stampft, um alles zusammenzupressen; und selbst wenn wir vorher das Wasser aus den Löchern fegen, verwandelt sich alles in wabbligen Schlamm.
Gott sei Dank arbeiten wir zu zweit, allein würde man nach einer halben Stunde aufgeben. So machen wir weiter, stoisch Loch für Loch. Es ist kalt und nass und neblig und das Einzige (abgesehen von einer Uhr), was einem die ungefähre Tageszeit verraten kann, ist meine bleierne Nachmittagsmüdigkeit.
Heute wollte uns das ILM-Team helfen, aber die waren absolut nutzlos. Schmeißen einfach ein bisschen Sand in die voll gelaufenen Kuhlen und fahren ein-, zwei-, dreimal mit dem Van drüber. Und nach einer Stunde verschwinden sie „mal kurz“, um bis drei nicht wieder gesehen zu werden. Tommy, der Mann mit dem Gewehr, hat uns gestern etwas besser geholfen.
Auf’m Bau
Vielleicht sollte ich die Uni vergessen und in den Straßenbau gehen. Stampfen, mischen, ich hab schon soviel gelernt. Unser Mix ist ziemlich gut, Wasser bindender grober Sand, dazu Zement und darauf Steine. Das Wasser kommt aus dem Boden. Wie Porridge machen. Überhaupt sollten wir Porridge benutzen. Nach fünf Minuten an einem Topf ist das so gut wie Beton.
Wenn sie uns nur Zeit geben würden, damit sich die Zementmischung setzen kann. Aber unser Farmweg ist ja schon kein Farmweg mehr, sondern eine Autobahn. Ständig kommen Fahrzeuge durch. Und ich schwöre, sie warten, bis wir anfangen zu arbeiten. Fünf Minuten nach Arbeitsbeginn waren schon wieder zwei Kleintransporter durch. Vor fünf Jahren wollten sie diesen Weg schon asphaltiert haben...
Aber was sollen wir machen, außer weiter Sand und Steine zu mischen, zu stampfen und durch den Nebel von Loch zu Loch zu ziehen. Zum Glück haben wir viel zum Lachen. Wir sind ziemlich ausgepumpt, Paul sogar mehr als ich. Sogar unter meinen Lederhandschuhen haben sich Blasen gebildet. Und warum sind ausgerechnet meine Ringfinger so kaputt? Trotzdem, ich wünschte, wir hätten das ein paar Wochen vor London gemacht. Ich wäre da unten angekommen aussehend wie Arnie.
Vom Augenblick zum Stundenschlag
Ja, das machen wir zurzeit auf der Farm. Eine gute und eine schlechte Nachricht: Rons Lämmer sind schon da. Leider nur, um irgendwann geschlachtet zu werden. Absolut anbetungswürdig in ihrem kleinen Verschlag. Jetzt weiß ich, wie Sheila mal aussah. Zum Glück sollen sie noch so etwa sechs Monate zu leben haben. Da ist meine Zeit gerade rum. Das erste, was Rebekka hier sehen wird, sind also vielleicht vier tote Lämmer.
Dafür habe ich heute übrigens meine erste bedrohte Spezies gerettet: Mareens Studie (reportus excellentis). Nachdem mir endlich mal der Kopierraum aufgeschlossen wurde, hab ich die Population gleich verdreifacht. Jetzt kann ich es endlich wagen, mal einen Blick hinein zu werfen. Bisher gab es davon nämlich nur eine Kopie, und ich hätte mit Sicherheit sofort literweise Kaffe drüber geschüttet.
Der Report ist gar nicht so lang, wie ich dachte, aber erfordert, soweit ich das nach einem Lesen beurteilen kann, eine ganze Menge Fachwissen. Zum Glück war die eigentlich Studie mit den Lebendfallen nur eineinhalb Monate lang, dass kann ich also vielleicht noch unterbringen. Vielleicht. Denn gerade in London wurde ich von einer Tatsache oft und schrecklich gemartert: Fünf Monate. Nur noch fünf Monate. Und was sind fünf Monate? Bald sind es nur noch vier, drei, bloß noch zwei...
Wieso kann ich nicht noch ein Jahr bleiben? Ich verreise ja so gern.