Neuland entdecken -eine Woche im Flüchtlingslager
In diesem Eintrag berichte ich von meinen Erlebnissen als Freiwillige im Flüchtlingslager in Slavonski Brod, Kroatien
Schon seit dem Sommer verfolge ich die Nachrichten über Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa mit viel Interesse, Mitgefühl, Staunen und großer Ungläubigkeit. Seit ich in Kroatien bin, interessiert mich insbesondere die Lage der Flüchtlinge auf ihrer Durchreise durch das Balkanland. Mir ist klar, ich möchte helfen und vor allem: Ich möchte wissen, wer diese Menschen sind, die so viele Gefahren auf sich nehmen, um aus Syrien, Afghanistan, Iran oder Irak nach Europa zu kommen. Was sind ihre Ziele und Träume? Was haben sie in ihrer Heimat erlebt, dass sie hierher kommen? Und wie sah ihre Reise bis jetz aus?
Deshalb habe ich die letzte Woche als Freiwillige im Flüchtlingslager Slavonski Brod im Osten Kroatiens verbracht und möchte einige meiner Erlebnisse an dieser Stelle teilen. Dieser Bericht soll die Situation aus einem anderen Blickwinkel beleuchten und einen Kontrast zur Berichterstattung der Mainstream-Medien bieten.
Der Ablauf im Lager scheint sich immer und immer wieder zu wiederholen. Ein Zug fährt ein. Die Menschen strömen heraus und werden von den vielen anwesenden bewaffneten Polizisten zur Registrierungsstelle getrieben. Auf der anderen Seite der "Bürozelte" kommen sie in Gruppen von ca. 50 Personen heraus und müssen sich in zwei Reihen aufstellen, bevor sie von der Polizei in einen der sechs Sektoren begleitet werden. Auf dem Weg teilt das Rote Kreuz an jeden ein Lunchpaket aus. Sind die Menschen im Sektor angekommen, fängt die Hauptarbeit von uns Freiwilligen an. Wir fragen sie nach ihren Bedürfnissen. Viele brauchen warme Kleider, Schuhe, Babynahrung oder ärztliche Hilfe. Wir laufen zwischen den Sektoren und dem Kleiderlager hin und her und versuchen, alle Wünsche zu erfüllen. Etliche Kilometer habe ich so in den fünf Tagen zurückgelegt. Wir kümmern uns so lange um die Menschen, bis ein Zug kommt und sie nach Slowenien bringt.
Ich bin beeindruckt, dass die Menschen trotz ihrer misslichen Lage ihren Sinn für Humor nicht verloren haben. Wir haben nicht genug Hosen in den benötigten kleinen Größen. Ich ernte allgemeines Gelächter, als ich mit einer riesigen Männerhose im Sektor auftauche, um das Problem anschaulich zu erklären.
Die Verständigung ist ein besonders großes Problem. Die meisten Menschen sprechen nur arabisch oder Farsi. Das hat einerseits zur Folge, dass wir oft nicht verstehen, was die Menschen brauchen, andererseits lerne ich ein bisschen arabisch und habe es irgendwann raus, was jemand braucht, der "bantalun", "dschacket" oder "schourat" sagt. Die Sprachvielfalt im Camp bringt aber noch ein anderes Phänomen mit sich. Ich traue meine Ohren nicht, als ich an einem Nachmittag die Polizisten "Jalla! Jalla!" durchs Megafon brüllen höre, um die Menge in den Zug zu verfrachten. Ich muss mich fast vor Lachen kugeln. Einerseits, weil der Klang dieses Wortes Schulhoferinnerungen in mir weckt, andererseits, weil es skurril ist zu erleben, wie die volluniformierten Beamten, hohe Repräsentanten der Republik Kroatien, wie selbstverständlich ein Stück fremdländische Kultur aufnehmen. Wenn das bloß überall so einfach gehen würde...
Interkulturell ist aber nicht nur das Verhältnis zwischen Polizisten und Flüchtlingen, sondern auch das unter den Freiwilligen. Bei meiner Ankunft war ich sehr überrascht, soviel (Schweizer)Deutsch zu hören. Die Helfer hier kommen aus über zehn verschiedenen Nationen. Das hat unserer guten Zusammenarbeit aber nicht im Wege gestanden. Im Gegenteil, in meiner ersten Schicht sind einige gerade dabei, Regale zu bauen, um die Kleiderspenden aufbewahren und sortieren zu können. Auf die Frage, ob jemand mit Bohrmaschine und Säge umgehen kann, rufe ich spontan "hier!". Und ehe ich mich versehe, stehe ich mit Warnweste, Stirnlampe und Stichsäge in der kalten Nachtluft und zimmere Regale. Unter den beeindruckten Blicken der Männer, die zu meiner Freude aber in meine handwerklichen Fähigkeiten vertrauen und mich in ihr Team integrieren. Gesprochen wird auf Kroatisch, Deutsch und Englisch.
Ein weiteres Beispiel interkultureller Zusammenarbeit ereignet sich am dritten Tag. Die Menschen in Sektor 1 warten jetzt schon seit Stunden auf ihren Zug und langsam kommt Langeweile unter den Kindern auf. Aber unsere tschechischen Freunde haben die Situation im Griff. Die Ukulele und Percussions werden rausgeholt und fünf Minuten später sitze ich auf dem Schotterboden mit einer Rassel in der Hand und höre tschechische Volkslieder live performt. Umringt von glücklichen Kindern, die uns die Percussions aus der Hand nehmen, um mitzuspielen und ebenso glücklichen Erwachsenen, die ihre Freude etwas verhaltener durch Mitklatschen ausdrücken. Wir beenden unsere kleine Vorstellung mit dem Lied "Bare Necessities" aus dem Dschungelbuch. Die zentrale Message: Probier's mal mit Gemütlichkeit! Der Text geht dann so: Look for the bare necessities / The simple bare necessities / Forget about your worries and your strife
Mir kommt es vor, als würden in diesem Moment alle um uns herum das Lied zu Herzen nehmen, auch wenn wohl kaum einer den Text versteht.
Trotz solchen heiteren Momenten voller Ablenkung habe ich doch viel Mitleid für die Menschen, die hier in den Sektoren eingesperrt sind, wie Tiere im Zoo. Und ab und zu kommt es auch zu unschönen Situationen. In Sektor 2 gibt es Gedränge vor der Getränkeausgabe und ein übermüdeter Polizist am Ende einer langen Schicht verliert die Geduld. Mit Gebrüll und aggressiven Gesten wird die Menge zurückgedrängt. Ein älterer Herr, der etwas abseits auf dem Boden sitzt und sein Mittagessen verspeist, kann nicht rechtzeitig aufstehen. Der Polizist tritt ihn und zertrampelt sein Lunchpaket. Ich stehe hilflos daneben und muss tatenlos zusehen, um nicht selbst zwischen die Fronten zu geraten. Vielleicht ist meine Arbeit hier wirklich sinnlos und nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Ein bisschen Genugtuung habe ich dann aber zehn Minuten später, als den Beamten scheinbar das schlechte Gewissen übemannt und er bittet mich, ein neues Lunchpaket für den Herren zu besorgen.
Abgesehen von den Menschen, die Opfer solcher willkürlichen und unnötigen Situationen werden, gilt mein besonderes Mitleid den vielen Kindern, die in ihrem jungen Alter schon so etwas erleben müssen. Wir Helfer versuchen da zu sein, wenn die Polizei die Menschen in den Sektor oder in den Zug verfrachtet. Da herrscht oft auch dieser sehr aggressive Tonfall. Polizisten schreien "Ajde!" (die kroatische Version von "Jalla") und schubsen die Menschen voran. Dabei gibt es dann Geschrei von getrennten Familien und Kindern, die zwischen die Fronten geraten. Leider können wir nicht viel tun, außer den Menschen zuzulächeln und zu winken und ihnen im Stillen zu wünschen, dass sie bald an ihrem sicheren Ziel ankommen. An die Kinder verteilen wir Mützen, Luftballons und Süßigkeiten. Als Dank bekommen wir viele lächelnde Gesichter und das ein oder andere "Thank you!" oder "Shukran!". In diesen Momenten weiß ich dann doch, warum ich hier bin. Wenn ich auch nur ein paar Menschen in ihrer Situtation ein Lächeln entlocken kann, hat sich meine Arbeit schon gelohnt.
Die Zeit wird hier nicht in Stunden gemessen, sondern in ankommenden und abfahrenden Zügen. Oft weiß ich gar nicht mehr, wie spät es ist am Ende einer Zehn-Stunden-Schicht. Sechs am Morgen? Zwei in der Nacht? Zwölf am Mittag? Das alles spielt keine Rolle mehr. Das tolle Gefühl, die Zeit zu vergessen, vor so viel Beschäftigung hatte ich schon lange nicht mehr.
Einen Morgen verbringe ich mit den Kindern, für die UNICEF Mal-Tische und ein improvisiertes Fußballfeld unter freiem Himmel bereitgestellt hat. Für Stunden verteile ich Papier, schätze Gemälde wert, organisiere Stühle, spitze Stifte an und bekomme zum Dank einen ganzen Stapel Kinderzeichnungen geschenkt und ein "Shukran!" ins Ohr gehaucht, zusammen mit einem Lächeln. Die Sonne ist gerade aufgegangen, Seifenblasen und Luftballons fliegen durch die Luft und das einzige Geräusch sind Kinderstimmen. Ich freue mich so, dass all diese Kinder für ein paar Stunden einfach nur Kinder sein können. Egal, wo sie herkommen und egal, wo sie hingehen. Auf der anderen Seite des Maschendrahtzaunes patrouillieren die grimmigen Polizisten. Und egal, wie rau sie sein werden, wenn sie diese Kinder in ein paar Stunden in den Zug setzen, diese Augenblicke der Unbeschwertheit können sie keinem von ihnen nehmen.
Während ich später den Kindern im abfahrenden Zug winke, bleibt ein Chaos aus vom Morgentau aufgeweichten Bildern, zerbrochenen Stiften und umgekippten Stühlen in der Mittagssonne zurück. Plötzlich ist die Stille drückend und ich frage mich, ob ich vielleicht das ein oder andere Gesicht in Deutschland wiedersehen werde. Aber wahrscheinlich werde ich sie in ein paar Tagen längst vergessen haben. Schon jetzt beginnen die Gesichter der vielen Menschen ineinander zu verschmelzen. Es ist unmöglich, die tausenden von Menschen, die hier jeden Tag das Camp durchlaufen als Individuen kennenzulernen. Trotzdem gelingt es mir, mich nach den Geschichten von einigen zu erkundigen. Da ist zum Beispiel Mohammed aus Afghanistan. Von der Seite spricht er mich in perfektem Englisch an, stellt sich vor und fragt, wie es mir geht. Ich erkundige mich im Gegenzug nach seiner Reise und seinen Zielen. Er erzählt mir, es ist Tag 42 seit dem er losgegangen ist. Zu Fuß und mit dem Auto durch Pakistan und den Iran bis in die Türkei. Von dort aus für 1200$ auf einem kleinen Schlauchboot auf die griechischen Inseln. Er zeigt mir ein Video, wie Mitreisende in der Türkei das Boot aufpumpen. Natürlich heimlich gefilmt. Auf die Frage, wohin er unterwegs ist und warum antwortet er: Ich will nach Deutschland aus drei Gründen. 1. Ich möchte arbeiten und meine Familie finanziell unterstützen. 2. Ich möchte jemand sein, am liebsten studieren. Ich spreche sechs Sprachen. 3. Ich möchte Profiboxer werden. Ich bin Champion in Afghanistan, aber das bedeutet nicht viel. Ich blicke den abgemagerten jungen Mann vor mir an, berührt von so viel Ehrlichkeit und Offenheit. Sprachlos. Ich weiß nicht, was ich sagen soll und wünsche ihm viel Glück mit seinen Zielen. Gleichzeitig denke ich darüber nach, wie glücklich ich mich doch schätzen kann, dass ich in einem Land wie Deutschland leben darf. Und studieren. Und arbeiten. Und reisen. Einfach so.
Es gibt viele von diesen Momenten der Sprachlosigkeit, so viele Fragen, auf die ich keine Antwort weiß: Hast du meine Familie gesehen? Wie geht es weiter, wenn wir in Slowenien sind? Was bedeutet dieses Dokument? Warum sind so viele Menschen hier, die nicht vor dem IS fliehen, wie ich? Weißt du, ob ich in Deutschland bleiben darf? Und immer wieder: Wann kommt der Zug?
Ich wünschte, ich könnte allen diesen Menschen versichern: "Alles wird gut!" Und auch wenn ich die Antworten auf ihre Fragen nicht weiß, habe ich aus ihnen doch gelernt, dass wir Menschen im Grunde alle gleich sind. Wir haben die gleichen Träume von einem erfüllten Leben in Sicherheit und Freihiet. Und Kinder sind einfach Kinder.
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