Nachts zwischen den Grenzen
Grenzübergang Šid-Tovarnik, in der Nacht vom 20.-21.09.2015
Zehntausende Geflüchtete überqueren seit Wochen die osteuropäischen Grenzen um ihr Zielland der Flucht, meist Deutschland, zu erreichen. Seit Ungarn sich durch Stacheldrahtzäune und Schießerlaubnis einzäunt, bildet vor allem Kroatien den neuen Korridor für die lange Reise. Was sich an der serbisch-kroatischen Grenze die letzten Tage abspielt wirkt fremd, nicht als ob sich diese Szenen auf europäischem Boden abspielen würde. Ein kleiner Ausschnitt des Erlebten eines Volunteers.
Sie strahlte mich an, ihre großen dunklen Augen seit Stunden auf mein Gesicht gerichtet, immer wieder bewegten sich ihre Lippen und formten ein „it’s okay“. Diesen einen kurzen Satz hatte ich ihr die ganze Nacht ins Ohr geflüstert... Es war unfassbar kalt, gerade mal 8°. Zwischen 2000 Flüchtlingen klammerte dieses kleine Mädchen, ihre dunklen lockigen Haaren im Zopf, Jeans und eine dünne Jacke an, an meinem Bein. Zwischen den beiden Grenzposten der Serben und Kroaten drängten sich all diese Menschen. Polizei hinten, vorne, in der Mitte. Sie saßen auf der kalten kleinen Durchgangsstraße von Šid nach Tovarnik. Sie kamen als es noch hell war. Jetzt war es wieder hell. Dazwischen eine Nacht, eine lange, kalte Nacht. Eine Nacht in der die großen Hilfsorganisationen ein erneutes Mal versagten. Wir riefen sie an, sie wussten über die neuen Flüchtlinge zwischen den Grenzposten Bescheid. Aber die meisten kamen nicht.
Wenn sie kamen, kamen sie in einem viel zu kleinen Team und mit einer viel zu schlechten Ausstattung. Ein vierköpfiges Ärzteteam kam doch nach 1.5 Stunden fuhren sie ab und ließen zahlreiche Schwangere, Kinder, Kranke allen Altersklassen hinter sich; zudem einen Mann auf der einzigen Trage, die sie dabei hatten. Diese stand mitten auf der Straße, dahinter drängten sich die anderen 2000 Flüchtlinge. Über viele Tage liefen die Mitarbeiter einer anderen internationalen Organisation über die provisorischen Camps in Tovarnik, schickten in dieser Nacht aber auch nur einen einzigen. Aber dieser war vor Ort, die ganze Nacht. Der einzige der vielen Organisationen die Millionen von Euro jedes Jahr gespendet bekommen um in Krisenregionen und Menschen in Not helfen zu können.
Drei „Freiwillige“, wie man uns nennt, waren wir. Drei Deutsche aus München, Berlin und Borken (in Madrid lebend), im Alter von 29, 24 und 21 Jahren. Drei orangene Warnwesten inmitten von 2000 Flüchtlingen die eine lange, beschwerliche Reise hinter sich hatten. Bilder des Grauens, des Todes, der Angst. Endlich sind sie auf EU Boden angekommen, auf Boden auf dem es nichts gibt. Ein paar wenig hundert Käsesandwiches, die wir noch auf die Schnelle geschmiert hatten, einen 25 l Schwarztee Pott, ein bisschen Babynahrung, ein paar Wasserflaschen, ein paar wenige Schals – das war’s. Wir hatten den ganzen Tag, gerade einmal einen Kilometer weiter, alles verteilt, was wir hatten.
Die Zelte der großen Organisationen waren mit Nahrungsmitteln und Milch hochgefüllt, aber die Mitarbeiter erschienen trotz unserer Anrufe nicht. Die Menschen froren. Wir sprachen mit dem einzigen hauptberuflichen Mitarbeiter, ob es nicht noch irgendwo Decken gäbe. Er bejahte, 30km entfernt gäbe es ein Lager in Vinkovci, mit 900 Decken. Er hätte allerdings nur sein Auto. So rief eine von uns einen befreundeten Kroaten mit einem Van an und bat ihn mit nach Vinkovci zu fahren, um die Decken zu holen. Er willigte direkt ein, sie machten sich nachts um 12 auf den Weg, brachten die Decken bis Tovarnik. Von dort aus ging es nur mit blauen Nummernschildern zur Grenze – die dörfliche Polizei war angehalten den Bereich abzuriegeln.
So kamen nachts immer mehr Decken bis zu den frierenden Menschen und zumindest die Familien konnten ihre Kinder vor der Kälte schützen. Später wurde es unruhig, es hieß, dass Busse kommen würden. Die Leute drängten nach vorne, sie wollten der Kälte entfliehen. Hinter der Polizeiabsperrung bildet sich ein Mob aus Leuten, dazwischen Frauen mit Babys, Kinder.... Plötzlich schrie eine Frau, wir rannten hin, holten sie und vier Kinder aus der Menge, drei Männer die dazugehörten kamen uns nach. Die Frau sank zusammen, presste ihr Baby an ihre Brust. Ich hielt sie von hinten fest, setze sie auf einen Sack Decken, hielt ihr den Kopf mit der linken Hand, drückte ihren Rücken an meinen Oberkörper, und hielt ihre Tochter mit der rechten Hand fest. Die klammerte sich an mich. Es dauerte – lange, lange Zeit verblieben wir in dieser Position.
Dann fing ihr Sohn, vielleicht gerade einmal drei Jahre an laut zu weinen. Ich nahm ihn, bald beruhigte er sich. Im Hintergrund war es weiterhin unruhig; Busse kamen keine. Die Männer, die zu der kleinen Familienreisegruppe gehörten standen um uns herum, keiner bewegte sich. Alle waren erstarrt. Irgendwann beruhigte sich die Menge im Hintergrund. Die anderen teilten Decken aus, mittlerweile waren noch vier tschechische „Freiwillige“ angekommen.
Das Mädchen redete plötzlich auf mich ein, sie nahm meine Hand, wollte Richtung der Menschenmenge. Ich verstand zuerst nicht, dann übersetzte jemand, sie müsse zur Toilette. Also gingen wir zu den Dixi Klos, die man schon aufgestellt hatte. 5 Stück an der Zahl, für 2000 Flüchtlinge. Von den Vortagen war ich den Gestank und den Anblick dieser Toiletten schon „gewöhnt“ – menschenunwürdig ist wohl das Wort, was diese am ehesten beschreibt. Die gerade mal Siebenjährige kletterte auf die Fläche neben dem Toilettenring, geübt war sie darin. Ich bat eine andere Frau mir eines ihrer Feuchttücher zu geben, Toilettenpapier, geschweige denn Wasser oder Seife gab es keine. Nach wenigen Sekunden hüpfte die Kleine aus der Toilette, rieb sich die Hände mit den Tüchern ab, lächelte mich an, nahm meine Hand und wir gingen zurück.
Dann kam der Älteste der Kinder auf mich zu, ich dachte es wäre der Sohn der Mutter, doch ein paar andere Flüchtlinge übersetzten, dass diese nur entfernte Verwandte seien, dass er von seiner Familie getrennt worden sei und dass unter den Flüchtlingen hier nur noch sein Vater sei, der in großen Gruppe stände. Der Junge rief „Baba, Baba!“, zeigte in die Gruppe, nahm meine andere Hand und wollte in die Richtung laufen. Da kamen bereits Polizisten der kroatischen Spezialeinheit auf uns zu. Ich hielt den Jungen zurück, erklärte den Polizisten, die perfektes Englisch sprachen, aber auch deutsch, dass der Sohn vom Vater in dem Tumult getrennt worden war. Sie wiesen uns zurück, weil die Menge ein erneutes Mal laut wurde. Ich zog den Jungen, der gerade einmal 10 Jahre alt war, zurück; er weinte. Auch mir kamen wieder die Tränen.
Dieser Junge flieht aus dem Krieg mit seiner Familie. Sie lassen alles zurück, haben nur noch sich. Dann wird die Familie auf der Reise getrennt. Der Junge bleibt nur noch mit seinem Vater zusammen. Jetzt wünscht er nur das eine: Augenkontakt mit seinem Vater. Wie stehen auf EU Boden, der Vater ist gerade mal wenige Meter entfernt, aber er darf nicht zu ihm. Dieser Junge ist traumatisiert, einen einzigen Wunsch hat er und der wird ihm verwehrt. Ich kann es nicht fassen. Ich bringe den Jungen zu seinen Bekannten. Verspreche ihnen, dass ich alles daran setzen werde, den Vater herzuholen. Erneut gehe ich zur Polizei, der Vater winkt. Der Polizist legt mir eine Hand auf, nickt mir zu, 2 Minuten später kommt er wieder, neben ihm der Vater. Ich sage „Danke“, darauf antwortet er, dass es ihm leid täte, dass er ihn nicht früher hätte herausholen können – sie seien angewiesen die Flüchtlinge hinter der Absperrung zu halten.
Er bat mich ihn nun zu seinem Sohn zu bringen. Auch die Augen des Polizisten waren feucht. Wir laufen zur Straßenseite, die beiden rennen aufeinander los. Tränen laufen aus ihren Augen. Sie umarmen sich gefühlte Minuten. Dann kommen sie auf mich zu, immer noch weinend, küssen mir auf die Wangen und umarmen mich fest. Sie sagen immer wieder „thank you“, eines der wenigen Wörter, die sie auf Englisch beherrschen. Thank you, thank you...noch jetzt hallen die Stimmen in meinen Ohren nach, noch jetzt bilden sich Tränen in meinen Augen, noch jetzt bekomme ich Gänsehaut.
Ich frage mich, in welcher Welt wir leben, in einer Welt in der der Luxus kein Ende hat und zeitgleich in einer Welt in der das einzige was sich ein Zehnjähriger wünscht ist, seinen Vater neben sich zu haben. Seit Wochen ist diese Familie unterwegs. Kräfte sind aufgezehrt, sie schlafen jede Nacht draußen, stehen im Regen draußen, sie warten und warten. Sie werden von einer Grenze zur anderen gebracht, keiner sagt ihnen wo sie sind, wo es hingeht. Warum tun wir das diesen Kindern, diesen Familien, diesen Menschen an? Haben sie nicht schon genug Leid gesehen? Warum geben unsere Regierungen den Polzisten solche Anweisungen? Warum sagt man den Busfahrern erst, wenn sie losgefahren sind, wohin sie die Flüchtlinge bringen sollen? Warum können die großen Hilfsorganisationen sich Krisenorten verweigern? Wie kann ein Ärzteteam, seine Arbeitszeit beenden, bevor sie sich die Kranken überhaupt erst einmal gesehen haben?
Eine solche Nacht kann die Ethik unserer Gesellschaft, die unserer Politik in Frage stellen. Moral wird so hochgehalten, aber zwischen den Grenzen von Kroatien und Serbien mit Füßen getreten. Versucht man ein wenig dieser Moral wieder herzustellen, löst man Tränen der Dankbarkeit aus, wird man geküsst, umarmt. Ich tat nichts, nichts anderes außer was Selbstverständlich ist. Doch wenn es um Flüchtlinge geht, Menschen die aus ihrer Heimat fliehen, dann gibt es offensichtlich keine Selbstverständlichkeit mehr...
Kirsten König, 25.09.2015
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