Mein EVS in Gyumri
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Endlich ist es so weit. Ich bin in Gyumri. Es ist früher Morgen und ein neuer Tag beginnt gerade. Geschlafen habe ich nicht viel, und doch wurde gerade ein Traum war, obwohl ich wegen der Aufregung und Gespanntheit kaum geschlafen oder gar geträumt habe.
Gyumri ist eine kleine Stadt mit etwa 110 000 Einwohnern. Sie wirkt schon auf den ersten Blick freundlich, die Häuser haben meistens einen braunroten, manchmal auch gräulichen Farbton, und sie sind wegen der Erdbebengefahr hier im Nordwesten Armeniens oft relativ flach gebaut. Im Vergleich zu vielen Häusern in Deutschland wirken sie mit ihren Farbtönen einladend. Obwohl es immer noch einzelne Erdbebenruinen gibt, und viele Menschen wegen des Erdbebens vom Dezember 1988 auch in der Stadt Gyumri noch immer in eigentlich als Notunterkünften gedachten Gebäuden leben müssen, versetzt mich die Stadt sofort in eine entspannte Atmosphäre. Gyumri hat etwas Natürliches an sich, das über den spektakulären Anblick des 4095 Meter hohen schneebedeckten Aragats im Rücken der Stadt, und die vielen im Herbst noch kargen, aber im Frühjahr grüneren Hügel auf der anderen Seite Gyumris hinausgeht. Trotz vielleicht etwas zu vieler Denkmäler wirkt die Stadt nicht gefaked.
Der Tagesablauf in Gyumri unterscheidet sich vom Tagesablauf in vielen deutschen Städten. Das Leben rund um Gyumris einzigartigen, relativ großen Bazar unter freiem Himmel beginnt nicht vor 9 Uhr. Meine Arbeitszeit im Youth Initiative Centre erst um 11.
Am Anfang nutze ich das oft aus um mir morgens mein Frühstück an den Ständen des Bazars zu kaufen. Später werde ich zum Langschläfer.
In Gyumri ist vieles klein, aber fein. Die Stadt unterscheidet sich stark von Armeniens Hauptstadt Yerevan, die Geschäfte nahe der Altstadt, der Fußgängerzone und dem Bazar von Gyumri sind zumeist klein, sodass mich einige Verkäufer schnell kennenlernen und ich meine ersten Versuche unternehme (außerhalb vom Unterricht mit Lilit) armenisch zu sprechen. Sicherlich helfen mir beim Lernen auch die vielen Besuche bei der Tourismusstudentin Susan in Yerevan, mit der ich mich schnell angefreundet habe, und die ich oft besuchen fahre. Susan kennt alle Orte in Yerevan, scheinbar jedes unscheinbare Haus hat seine eigene Geschichte in dieser alten Stadt.
Yerevan ist im Vergleich zu Gyumri riesig und erscheint vor dem Panorama des heiligen Berges Ararat spektakulär. Im Zentrum von Yerevan fühlt man in einer Großstadt zu sein, doch wenn man etwas Ruhe haben will kann man am Kinderbahnhof Energie tanken und wandern, am spektakulären Hrazdan-Fluss, mitten in der Natur, und doch mitten in der Metropole Armeniens.
Während ich viel von Armenien kennenlerne, zeige ich meinen Deutschschülern im YIC einige Kurzfilme über Deutschland, und manchmal lernen wir auch gegenseitig voneinander. Der Unterricht macht sehr viel Spaß, ist oft lustig und eine ehemalige Schülerin der 3.Oberschule in Gyumri baut einen Kontakt zwischen mir und der dortigen Deutschlehrerin Lusine Ikilikyan auf. In der Schule, die ich einmal pro Woche besuche, fühle ich mich richtig wohl, und wenn mein Schultag am Mittwoch endet, bin ich zum ersten Mal traurig eine Schule verlassen zu müssen.
Meine hosting organisation, das Youth Initiative Centre, ist immer offen für neue Ideen wie den Schulbesuch, und unsere Projektkoordinatorin Mariam zeigt uns EVSlern auch neue Orte, wo man etwas Sinnvolles tun kann. So besucht eine meiner Mitbewohnerinnen und Freiwilligen aus dem YIC, Sabina aus Polen, einmal in der Woche ein Zentrum für Menschen mit Behinderungen namens Emili Aregak (Emils kleine Sonne), und eine dänische EVSlerin organisiert eine Menschenbücherei, bei der sich viele Leute wie ein indischer Student aus Yerevan oder ein älterer Jeside aus einem Dorf gegenseitig kennenlernen, von denen einige deshalb hinterher sogar bei uns übernachten, weil ihnen Gyumri so gut gefallen hat. Das Friday´s Cafe, das von allen Freiwilligen zusammen organisiert wird, und bei dessen Organisation sich auch manchmal unsere Mentoren wie Gevorgh, der uns EVSlern auch bei allen Problemen im Haushalt hilft, oder sogar YIC-Chef Arthur helfen, ist ebenfalls ein Cafe voller verschiedener Ideen.
Auch in der Schule ist die Lehrerin Lusine sehr engagiert, was ich nicht nur beim Austausch mit österreichischen Schülern merke, sondern auch beim Schulkonzert und vielen anderen Aktionen, etwa einer Spendenaktion zur Weihnachtszeit. Ich gebe mir ebenfalls viel Mühe mit Spielen wie Papierschneeballschlachten, Würfelspielen, Filmen, interessanten Geschichten, kleinen Wettbewerben mit Zungenbrecherbattles oder Quizfragen und gefilmten Rollenspielen den Schülern Freude am Unterricht zu bereiten. Unseren Schülern gefällt der Unterricht sehr gut und ich genieße richtig die Zeit in dieser winzigen Schule in Gyumri.
Weihnachten und Neujahr verbringe ich in Sisian, bei der Familie meiner Freundin Susan. In dieser Zeit sehe ich viele wunderschöne Orte wie das armenische Stonehenge, das deutlich älter als die ähnlich aussehenden Steine in Großbritannien ist. Ich verbessere meinen armenischen Wortschatz in Sisian und gewinne einen Eindruck der großen Gastfreundlichkeit der Armenier. Diese Gastfreundschaft spüre ich auch in Gyumri oft, weil ich ständig gefragt werde, woher ich komme, was ich in Armenien mache, wie es mir hier gefällt und manchmal sogar von Fremden gefragt werde, ob ich mit ihnen etwas trinken möchte. Leider ist Weihnachten in Sisian nicht Susans ganze Familie anwesend, weil ihr Bruder Garnik als Wehrdienstleistender vom Militär keine freien Tage bekommen hat. Überhaupt ist der Wehrdienst für Armenier sehr gefährlich und eine schwierige Zeit, auch für die Familien der Wehrdienstleistenden. Als im April vier Tage lang Krieg in Karabakh herrscht, nimmt dieser nicht nur die Angehörigen von Soldaten, sondern ganz Armenien sehr stark mit, viele Veranstaltungen fallen sogar im weit entfernten Gyumri aus. Mit der Zeit kehrt jedoch wieder Normalität in Armenien ein. Es finden wieder Konzerte, etwa von meinem Deutschschüler Mikayel, einem Cellospieler, statt, dessen Konzert wir mit dem ganzen Kurs gemeinsam besuchen gehen.
Am Ende vergeht die Zeit viel zu schnell. Zwar habe ich schon viele tolle Reisen nach Misaksieli und Tblilisi in Georgien, wo ich beim On-Arrival-Training auch viele EVSler kennenlernen konnte, und nach Garni und Ejmiadsin mit Susan und dem YIC erlebt, doch die letzen Wochen reise ich durch alle Regionen von Armenien und genieße die ganze Schönheit des Kaukasus und erinnere mich an alle guten Tage, die ich dank des YICs, dank Mariam, Rebecca, Arthur, Gevorgh, dank meiner Schüler und meiner Lehrein in der 3.Schule, natürlich auch dank Susan und vielen anderen Leuten erleben konnte. Und das Beste ist: Mein EVS war mein erster, aber sicherlich nicht letzter Besuch in Armenien und vielleicht werden auch einige von euch so eine Chance wie ich bei meinem EVS bekommen.