Mati Nuude - der estnische Jürgen Drews
In den letzten vier Wochen habe ich die Städte Tartu und Narva besucht, estnische Schlagermusik kennenglernt und bin Mitglied einer Fußballmannschaft geworden.
Am vorletzten Oktober Wochenende habe ich mit anderen Freiwilligen die von Tapa mit dem Zug ungefähr eine Stunde entfernte Stadt Tartu besucht. Tartu ist mit knapp 94.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Estlands und würde sich damit im Ranking der deutschen Städte nicht einmal unter den Top siebzig einreihen. Trotzdem ist die am Fluss Emajõgi gelegene Stadt auf jeden Fall einen Besuch wert, nicht zuletzt aufgrund der unterschiedlichen Kulturen, die hier aufeinandertreffen. Mit der Universität Tartu ist nämlich die größte und bekannteste Universität des Landes in Tartu beheimatet, an der Studenten aus 90 verschiedenen Nationen lernen. Auch haben wir ein kleines Café in einer Seitengasse entdeckt, in der es die beste Schwarzwälder Kirschtorte gab, die ich bisher gegessen habe, und welches ich in den noch folgenden Monaten sicher noch einige Male besuchen werde. Des Weiteren gibt es in Tartu drei kleinere Shoppingmalls, sodass ich mir endlich vernünftige Winterschuhe zulegen konnte. Die Temperaturen bewegen sich nämlich inzwischen schon häufig an der 0 Grad Grenze und nächste Woche soll es leichte Schneefälle geben.
In der darauffolgenden Woche sind meine Mitbewohnerin und ich, auf den Tipp meiner Tutorin hin, dann zum ersten Mal zum Fußballtraining im Nachbarort Kadrina gegangen. Die Mannschaft besteht nur aus Frauen, die alle etwas älter sind als ich, doch es hat trotzdem sehr viel Spaß gemacht. Wir wurden sehr gut aufgenommen, die Trainerin spricht perfektes Englisch und nach zwei Trainingseinheiten wurden wir schon direkt zu einem Freundschaftsspiel gegen Rakvere eingeladen. Die zweite Halbzeit durfte ich sogar komplett durchspielen, aber leider haben wir in der letzten Spielminute noch das dritte Gegentor bekommen und somit 2:3 verloren. Da nun die Hallensaison beginnt, haben meine Mitbewohnerin und ich auch noch beide estnische Spielerpässe bekommen und spielen am Dienstag nun unser erstes offizielles Punktspiel in Tallinn. Auch gehe ich weiterhin jeden Mittwochabend zum Saalihoki-Training und habe inzwischen das Gefühl, dass ich mich auch nicht mehr völlig doof anstelle. Da ich abgesehen von einer anderen Frau nur mit erwachsenen Männern spiele, bin ich körperlich natürlich weit unterlegen, doch alle nehmen netterweise Rücksicht auf mich und versuchen, mir so gut wie möglich zu helfen. Außerdem hat mich der Trainer zu der Anfang Dezember stattfindenden Weihnachtsfeier eingeladen und immer mehr der Spieler fangen auch an mit mir zu sprechen. Die Esten brauchen offensichtlich wirklich einfach nur ein wenig Zeit zum Auftauen und wo von zehn Spielern am Anfang nur eine Person Englisch konnte, sprechen nun plötzlich die Hälfte Englisch und mindestens zwei sogar auch einige Brocken Deutsch. Deutsch, stelle ich immer häufiger fest, wird in Estland sowieso von sehr vielen Personen gesprochen. Manchmal sind es nur kurze Sätze wie „Sprechen sie Deutsch?“ oder „Heute spielt Schweinsteiger.“, doch viele können sich auch fast akzentfrei artikulieren. Zwei Mal wurden wir inzwischen schon im Zug auf Deutsch angesprochen, wobei es sich bei einem Mal um eine Deutschlehrerin vom Gymnasium Tapa gehandelt hat. Die Lehrerin hat meine Mitbewohnerin und mich sofort dazu eingeladen, einmal ihren Unterricht zu besuchen und uns ihre Telefonnummer gegeben, sodass wir gerade mit ihr nach einem passenden Termin suchen. Es wird sicher spannend zu sehen, wie hier in Estland Deutsch gelernt wird. Trotz dessen, dass Deutsch hier überraschenderweise wirklich so weit verbreitet ist, sind wir aber immer noch motiviert estnisch zu lernen. Nächste Woche beginnt unser kostenloser, von der estnischen Regierung angebotener Sprachkurs, welcher für fünf Stunden pro Woche innerhalb der nächsten drei Monate läuft.
Vorletztes Wochenende war ich dann bei einem ESKogukond-Event wieder in Tartu. ESKogukond ist eine Organisation für und mit Freiwilligen aus ganz Estland, die verschiedene Aktivitäten plant. An dem Wochenende durften wir beispielsweise ein kleines Unternehmen kennenlernen, dass sich auf Recycling spezialisiert hat und in dessen Werkstatt Tisch und Stühle lackieren und streichen. Nächstes Wochenende ist eine Filmnacht in Tallinn geplant und im Dezember ein großes Weihnachtsessen mit Gerichten und Traditionen aus allen Ländern der verschiedenen Freiwilligen.
Letzten Samstag habe ich mit mehreren Freiwilligen in Narva, der drittgrößten Stadt Estlands, verbracht. Narva liegt direkt an der Grenze zu Russland und ist für die Hermannsfeste, eine ehemalige Festung des Deutschen Ordens, bekannt. Leider hatten wir nicht das beste Wetter, doch trotzdem war es ein interessanter Tagesausflug. Insbesondere Essen bestellen wurde für uns aber zur Herausforderung, da 95% der Einwohner Narvas russisch sind und somit die meisten Speisekarten nur in kyrillischer Schrift vorhanden waren. Trotzdem haben wir es letztlich geschafft uns eine leckere Pizza zu bestellen und haben abends, bevor wir wieder gefahren sind, noch die Einkaufscenter erkundigt.
Bei der Arbeit basteln wird derzeit überwiegend mit den Klienten Adventskalender, welche natürlich spätestens am ersten Dezember fertig sein müssen. Auch haben wir es nun so organisiert, dass wir zweimal pro Woche mit den Rollstuhlfahrern spazieren gehen können und einmal pro Woche eine Disco anbieten. Durch die Disco haben wir auch verschiedene estnische Schlagersänger, wie Mati Nuude oder Toomas Anni kennengelernt, welche uns, trotz der eher weniger meines Geschmacks entsprechenden Musik, jedenfalls beim estnisch Lernen helfen. Auch können einige der Klienten inzwischen meinen, für estnische Verhältnisse wirklich schwierigen Namen (im estnischen gibt es eigentlich kein F), aussprechen. Für andere bin ich sonst einfach Rike oder Rika, aber das ist für mich auch völlig in Ordnung.
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