Lloret de Mar, 20.08.2008
Der Text ist während eines dreimonatigen Praktikums im Partyort Lloret de Mar an der spanischen Costa Brava entstanden. Er resümiert und hinterfragt die sehr intensiv gelebte Zeit an diesem seltsamen Ort.
Tag 86 an diesem bizarren Ort ohne Esprit und Geschmack. In weniger als zwei Wochen heißt es adios. Ganze 86 Tage hat es gedauert, bis ich zu meinem Notizbüchlein greife. Vielleicht aus Sorge, nicht die richtigen Worte zu finden, für das, was in meinen Gedanken herumschwirrt.
Lloret. Lloret de Mar, dieser Ort macht mich kaputt. Jeden Tag, jede Sekunde Leben, ein ewiges Wüten und Toben. Ganz besonders schlimm ist es seit Juli, seitdem ist Hochsaison. Die einzige Quelle der Stille weit und breit – und damit eine Attraktion – ist die kleine kühle Kapelle auf dem Plastikblumenfriedhof jenseits der Partymeile.
Im Spanischen fühle ich mich mittlerweile heimisch. Ich lerne schnell, denn Worte müssen gesprochen werden (auch hier!). Die wenigen Einheimischen, die in Lloret wohnen, freuen sich über die sprachlichen Fortschritte und geizen nicht mit Lob. Doch selbst diese wohlklingende Sprache verfügt über eine Menge furchtbarer Floskeln. Ein jeder fragt dich ¿Qué pasa? [Was gibt's?] oder ¿Qué tal? [Wie geht's?], ohne auf deine Antwort zu warten. Als Mädchen wirst du chica [Mädchen] gerufen, du bist oft guapa [hübsch] und stets jedermanns cariño [Liebling]. Die meisten Dialoge sind wenig geistreich und oft noch sehr zäh, aber was soll's. Neuerdings höre ich mich sogar schon spanische Vokabeln sagen, von denen ich nicht einmal das deutsches Pendant weiß. El recogedor – Kehrschaufel mit langem Stiel oder so? Mein Deutsch kommt mir abhanden.
An den Alltag habe ich mich nun gewöhnt. Spätes Aufwachen nach wenig Schlaf; erstes Mal Restaurant; Siesta; dann ein zweites Mal Restaurant, um noch einmal gierige Touristenmäuler zu versorgen. Der Job ist hart, das Geld knapp, die Klimaanlage kalt und wir alle krank. Um es erträglich zu machen, gibt es meist schon vor dem Feierabend Wein oder Wodka O. Danach machen wir das, was hier alle tun. Feiern. Meist schreit einer der fünfzehn Leute aus unserem Apartmenthaus (ein Ort mit vielen offenen Türen und wunderbaren Bewohnern): „Who's going out tonight?” Und immer wollen alle, der Belgier, die Franzosen, wir Deutschen, die zwei Argentinier und die Niederländer sowieso. Denn Tanzen heißt Ablenkung und Trinken Vergessen. Wir machen uns fertig und schon beginnt der Streifzug durch Llorets Clubs wie dem Bumbers, Colossos, St. Trop, Tropics oder ZOO. Die Musik ist überall gleich und reicht von Baila Baila bis zu billigem Pop. Die Bars sind – wie auch die Diskotheken – allesamt geschmacklos, aber es gibt kostenlose chupitos [Shots] für uns, deshalb gehen wir hin. Vielleicht sieht man es uns mittlerweile an, wir sind auf Koffeintabletten und Antibiotika. Ob wir sehr fertig aussehen? Bisher hat keiner etwas gesagt. Mit uns feiern Menschen aus aller Herren Länder, die hier sind, um sich den Verstand wegzuschießen, dabei ist jeder gleich und keiner wird komisch angeschaut. Keine Gewalt, kein Fremdenhass. Am Morgen liegen die meisten dann irgendwo am Strand und nüchtern aus, während ihnen das Portemonnaie geklaut wird. Es gibt hier auch Bekannte, die wir nur nachts sehen, dazu zählen Gonzalo und Fahsse, José, der sechzigjährige DJ aus dem ZOO, und Pepe an der Bar, der uns immer wieder gern Freigetränke mixt. Ich danke diesen Typen so für den Spaß jeden Abend! Warum ich ihre Namen aufschreibe? Um sicherzugehen, dass ich sie nicht vergesse.
Gerade ist wieder Siesta. Ich sitze müde und mit schmerzenden Füßen am Strand und schaue zusammen mit den Massen neben, vor und hinter mir aufs Wasser. Im Player läuft „Leavin' on a jet plane“ und auch ich sitze bald im Flieger, der mich von hier weg bringt. Nach Hause. Aber bin ich nicht auch in Lloret zu Hause? So wie ich hier sitze, fühle ich ein deutliches sí [ja!]! Ich kenne jede Straße, habe ein Lieblingscafé, einen Arzt, einen Rückzugsort, Kollegen, Bekannte und sogar Freunde. Ich mag die spanische Ausgeglichenheit, das Meer, den Sommer, Katalonien, die lächelnden compañeros [Kollegen] und ganz besonders diese Stimmung, die hier herrscht (irgendetwas zwischen Euphorie und Melancholie). Wir verdienen sehr wenig und schuften oft sechs Tage pro Woche. Die meisten von uns waren schon mit Fieber auf Arbeit oder lutschen Antibiotika wie andere Bonbons. Gründe, von hier wegzugehen, aber wollen wir das? Ich will nicht so richtig. Eine wirklich schräge Zeit. Ein wirklich schräger Ort.
Fast drei Monate lebe ich nun mit all den verrückten Menschen ohne Alter, ohne Rast, ohne Gedanken an morgen. Wir sind ein Team, keine Fremden, sondern spanische Nachbarn. Quiero la vida, que vivimos aquí [Ich mag das Leben, das wir hier leben]! Und wie ich so aufs Meer schaue, schwöre ich diesem eigenartigen Ort, wir sehen uns wieder. Es wird nicht leicht, in ein paar Tagen einfach loszugehen. Die Zeit wird nicht reichen, um sich noch einmal umzudrehen.
I'm leavin' on a jet plane. I don't know when I'll be back again.
Oh babe, I hate to go.
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