LGBTQI in Ungarn jetzt und in Zukunft
Zur Situation der LGBTQI-Community in Ungarn und dem Veränderungspotenzial durch kommende Generationen.
Während die Akzeptanz gegenüber LGBTQI-Menschen in Ungarn im Europavergleich noch nicht besonders ausgeprägt ist [1], erlebt die Community einige politische Rückschläge, wie z.B. das Gesetz, beschlossen im ungarischen Parlament am 31. März 2020, das im Pass lediglich das „Geschlecht bei Geburt“ stehen wird und damit eine zukünftige Änderung des Geschlechts ausschließt [2], die Angriffe auf das Budapester Kulturzentrum „Auróra“, in dem auch mehrere (oppositionelle) NGOs ihre Büros beziehen [3], oder die breite Ablehnung gegen eine Coca-Cola-Werbekampagne, die homosexuelle Pärchen abbildete, wofür „The Coca-Cola Company“ zu einer Geldstrafe wegen schädlichen Einflusses auf Minderjährigen [4] verurteilt wurde. Dafür wurde in Budapest im Herbst 2019 ein Bürgermeister gewählt, der oppositionell zur Regierungspartei Fidesz steht und sich offen für Anliegen der LGBTQI-Community einsetzt [5].
Dennoch ist die Akzeptanz von homosexuellen Menschen in Ungarn steigend (vgl. Eurobarometer), und es ist auch davon auszugehen, dass mit jedem Generationenwechsel auch die Akzeptanz von transsexuellen und intersexuellen Menschen steigen wird: In sozialen Medien, wie auch z.B. über die Netflix-Eigenproduktionen [6] wird das Thema einer immer breiter werdenden Öffentlichkeit bekannt, damit gibt es vermehrt Berührungspunkte. Folgt man der Kontakthypothese [7], so verringern sich Vorurteile gegenüber einer Minderheit, welcher Art auch immer, umso mehr Berührungspunkte es gibt. Ein verstärkender Faktor ist derselbe soziale Status, was z.B. bei Social-Media-Konsument und Influencer in etwa gegeben ist; in Filmproduktionen haben LGBTQI-Darsteller sogar als „Filmstars“ das Potenzial zum Vorbild. Ein wichtiger Auftritt diesbezüglich war z.B. Conchita Wursts Perfomance von „Rise like a Phoenix“ im Eurovision Song Contest 2014 [8].
Dabei habe ich im vergangenen Jahr bzgl. der Flexibilität von Kindern, was das Geschlecht angeht, sammeln können: Ich bin eine Frau und arbeite in einem zweisprachigen Kindergarten mit Kindern zwischen drei und sechs Jahren. Als ich nach Ungarn gekommen bin, hatte ich praktisch eine Glatze, was die Kinder zuerst in Erstaunen versetzt hat: „Sie schaut aus wie ein Mädchen, aber sie hat ganz kurze Haare, wie ein Junge. Wie geht das?“ Spätestens nach einer halben Stunde war es kein besonders interessantes Thema mehr, spannender für die Kinder war es, meine Haare zu berühren oder ein neues Spiel zu spielen, in denen sie fragen, ob sie ein Junge oder Mädchen seien und dann nach Lust und Laune antworten, anstatt immer mit dem eigenen Geschlecht.
Eine meiner Aufgaben ist das Zeichnen mit den Kindern, die Mädchen wünschen sich oft Prinzessinnen, die sie ausmalen können, und meistens male ich dann auch „klassische“ Prinzessinnen, mit langen Haaren, Krönchen und einem puffigen Kleid. Nachdem ein Mädchen dafür ausgelacht wurde, dass sie durch Milchschaum einen Schnauzer bekommen hatte, gab es eine Prinzessin mit Vollbart – das war auf den ersten Blick sehr komisch für die Gruppe, deshalb haben wir uns die Performance von Conchita Wurst angesehen, was für sie herausfordernd war („Ist es ein Mann oder eine Frau?“), von den Jüngeren nicht weiter beachtet und von den Älteren diskutiert wurde („Sie hat lange Haare, Schminke und ein Kleid“ vs. „Er hat einen Vollbart“). Die Frage blieb unbeantwortet, die Kinder fanden dann auch etwas Anderes interessanter.
Das ändert nichts daran, dass bei den Kindern das Bild der Familie mit einem heterosexuellen Ehepaar und zwei bis drei Kindern dominiert, das Mädchen tendenziell mit Puppen spielen und die Junge eher das Werkzeug oder Autos rausnehmen (dabei muss ich das tendenziell unterstreichen, den Kinderwagen schieben die Jungs nämlich öfter durchs Gruppenzimmer, andererseits werden die besten Zugschienennetze von einem Mädchen gebaut). Das heißt auch nicht, dass Kinder, die mit Bildern von homosexuellen Pärchen oder Frauen mit Bärten überflutet werden, eine liberale Zukunftsgesellschaft bedeuten würden, das wäre falsch, und zu kurz gedacht. Diese Erfahrungen sind aber Indizien dahingehend, dass Kinder, selbst mit fast ausschließlich heteronormativen Erfahrungen, sehr flexibel sind und dass Bedenken, Darstellung und Konfrontation mit Menschen der LGBTQI-Community oder homosexuellen Pärchen würden Kinder verstören, nicht weiter zu verfolgen sind. Weiters sind diese Erfahrungen Indizien dafür, dass Geschlecht und Identität des Gegenübers im Denken und Handeln von Kindern weniger wichtig sind, als z.B. die Bereitschaft, mit ihnen zu spielen, sie zu trösten, oder ihnen zuzuhören – für mich ist das beruhigend und stimmt optimistisch.
Quellen und Kommentare (alle Links abgerufen am 25.06.2020):
[1] https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/ebs_493_data_fact_lgbti_eu_en-1.pdf oder https://www.ilga-europe.org/sites/default/files/Annual%20Review%202020.pdf (S. 56f.)
[2] https://www.euronews.com/2020/05/20/hungary-passes-bill-ending-legal-gender-recognition-for-trans-citizens
[3] https://hungarytoday.hu/far-right-assault-aurora-club-october-23rd/
[4] https://hungarytoday.hu/coca-cola-fined-for-ads-with-same-sex-couples-undermining-adolescents-moral-development/
[5] z.B. https://hvg.hu/itthon/20200601_karacsony_gergely_pride (auf Ungarisch)
[6] Netflix gibt „Inklusion“ als einen der wichtigsten Werte im Unternehmen an: https://mission-statement.com/netflix/
[7] https://portal.hogrefe.com/dorsch/kontakthypothese/
[8] https://www.youtube.com/watch?v=8fvLtTRzdHw
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