Leise Solidarität
"Was meinen Sie" fragt sie ihn in Gedanken von der anderen Seite der Bank: "bleibt das Leben und diese Welt immer so anstrengend? Oder gewöhnt man sich irgendwann an all das hier? Ich halte das jedenfalls nicht mehr aus, dieses ständige aneinander-vorbeileben"
Ihre Ohren rauschen immer noch von der Stille nach dem Auflegen. Das Telefonat war verwirrend und in ihr herrscht nur Chaos und gleichzeitig eine so wahnsinnige Ruhe. Sie weiß gar nicht was sie jetzt tun soll. Sie weiß nicht was diese Worte zu bedeutet haben, aber sie ist sich bewusst dass die gefühlte Sicherheit der letzten Jahre wegbröckeln wird.
Es ist noch dunkel und ziemlich kalt hier auf der Parkbank. Von hier aus kann sie die beiden Bäcker und den Kaufland sehen. In einem der Räume brennt schon Licht, und sie sieht den Schatten einer Frau im Schaufenster. Sie mag diesen chaotischen Ort. Auf dem Markplatz tummeln sich bei Tag so viele schöne, kaputte und einsame Menschen. Manchmal wenn sie hier sitzt, hat sie das Gefühl all diese Lebensgeschichten aufzusaugen. Alle Träume, Ängste und Hoffnungen auf diesem Platz fließen dann in ihr zusammen. Verbinden sich und in dem sie hier sitzt, ist sie Teil davon. Sie sind verbunden in ihrer Einsamkeit und damit auch wieder nicht einsam. Bescheuerter Gedanke. Überheblich auch. Aber es beruhigt sie irgendwie, wie eine traurig schöne Gewissheit.
Der Tränensack-Mann der hier immer vor der Volksbank an der Ecke steht, seinen Kopf leicht nach vorne gebeugt: „Meene Gute, hast du einen Euro für mich?“ Seine Tränensäcke hängen bis kurz unter die Knollennase, die Schultern baumeln ebenfalls traurig . Es ist als wäre ihr das Leben im Hals stecken geblieben, die Stille in ihr macht sie so verdammt unruhig. „Lieber Gott“ betet sie „Bitte mach dass mein Atem nicht feststeckt. Bitte mach dass ich heute überlebe.“ Mit geschlossenen Augen berührt sie die Stirn, dann die Stelle knapp unterhalb der Brust. Ihre Hände formen ein Kreuzzeichen. Das was nach dem Amen im Gottesdienst folgt. Sie macht es intuitiv, wie das Kratzen am Hinterkopf. Als sie klein war, dachte sie ihr Gebet sei nicht gültig, wenn sie nicht das Kreuzzeichen anschließe. Sie wünscht sich wieder klein zu sein. Da gab es noch einfachere Wahrheiten, da hatte sie noch so viel vor sich und das Leben war nur Spiel. Als Erwachsener ist scheitern vorprogrammiert. Und man kann an so vielem Scheitern weil diese Welt so viel von einem verlangt. Die Schule besuchen, einigermaßen akzeptable Noten schreiben, nicht unbeliebt sein. Irgendwie rausfinden was man kann, ob beim Berufsberater oder so einem seltsamen Ankreuztest in der Agentur für Arbeit. Studium, Ausbildung oder irgendwas. Dabei irgendwie gutaussehen. Zumindest nicht komplett fertig mit Augenringen oder so. Beziehungen erfolgreich führen und irgendwie auch wieder beenden. Nachrichten gucken und von all dem Scheiß den man da hört betroffen sein aber nicht zu sehr. So dass man noch funktioniert, denn: man „kann ja auch nichts machen.“ Und „So läuft die Welt eben“. Dann muss man noch: Einen Nebenjob finden, oder einen richtigen Beruf. Steuererklärungen machen und Ordnung in dem ganzen Bürokram halten. Auch wichtig ist natürlich die work-life-balance von der immer alle reden und dabei eifrig nicken. . Sie hört die Worte ihres Großvaters: du bist deines eigenen glückes schmied, mein Schatz. Mach was aus deinem Leben. Sanft streichelte er ihr dabei über die Haare und kniff sie in die Wange.
Sie muss an den Mann mit dem Loch in der Hose denken. Er ist ungefähr in ihrem Alter, hat lange wilde braune Haare und läuft barfuß herum wie Jesus. Sein Blick ist ganz sanft und er wirkt so zerbrechlich. Aber er stinkt, er stinkt wirklich. Bestimmt ein Jahr ist er mit einer vollkommen kaputten Hose herumgelaufen, sie war zerrissen, man konnte seinen Po immer sehen. Die Leute haben über ihn geredet, ganz laut. Aber er hat immer weiter gelächelt. Sie ist so wütend, wenn sie an den Hosenmann denkt. So wütendtraurig. Sie hofft, dass andere es auch sind. Weil es scheiße ist, dass er so rumlaufen muss. So einsam. Und andere Menschen auf ihn herabblicken und denken: der hat es nicht geschafft. Dabei ist doch das ganze Spiel scheiße, dass man es überhaupt schaffen muss.
All die Lücken durch die man rutschen kann im Leben. Die sollen weg, diese entsetzlichen Lücken.
Langsam wird es hell. Ihr gegenüber hat sich jemand auf die Bank gesetzt, sie gucken sich direkt an. Schwarze Mütze und darunter leicht graue Haare. Er hat ein Morgenbier in der Hand. Oder ein Feierabendbier? Jetzt guckt er traurig in Richtung Straßenbahnhaltestelle. Warum er wohl so alleine hier sitzt? Vielleicht hält er es in seiner Wohnung nicht mehr aus, zu wenig Platz zum atmen. Irgendwie traurig schön, weil sie gemeinsam einsam hier sitzen.
„Was meinen Sie“ fragt sie ihn in Gedanken von der anderen Seite der Bank „bleibt das Leben und diese Welt immer so anstrengend? Oder gewöhnt man sich irgendwann an all das hier? Ich halte das jedenfalls nicht mehr aus, dieses ständige aneinander-vorbeileben.“ Sie stellt sich vor wie er antwortet „Sie stellen aber Fragen junge Dame. Das weeß ich doch nicht. Leben ist Leben, is eben so.“ Jetzt prostet er ihr tatsächlich zu und trinkt einen Schluck. Sie weiß es nicht. Sie weiß nicht was dieses Telefonat zu bedeuten hat. Und ob sie sagen kann: Leben ist Leben. Welt ist Welt.
Sie wundert sich über sich selbst, aber sie fragt ihren Parkbankfreund tatsächlich ob er noch ein Bier für sie hat. Wortlos stellt er ihr eins auf den dreckigen Tisch zwischen ihnen. Sie stoßen an. Auf was eigentlich? „Auf was stoßen wir an?“ Fragt sie ihn. Er zuckt die Schultern. „Auf uns“, sagt sie und beide lachen laut und unsicher.