Leben im Camp
Diesen Sommer durfte ich eine einmalige Erfahrung machen: Ich lebte mit einer schwerbehinderten Frau in einem Flüchtlingscamp in der Nähe Bethlehems, half ihr durch den Alltag und erlebte so einen Bruchteil des Lebens eines palästinensischen Flüchtlings.
Mein Bericht beruht auf meiner persönlichen Erfahrung und den Informationen und Erzählungen, die ich von den Menschen dort erhalten habe ebenso wie auf meiner eigenen Recherche, aber ich bin mir bewusst, wie einseitig mein Bild des Nahostkonflikts ist – Daher muss ich unbedingt auch nochmal Israel bereisen!
Die Geschichte palästinensischer Flüchtlinge wurde mir immer als ein langes Leiden beschrieben: Von der gewaltsamen Vertreibung aus ihren Heimatdörfern wurden viele Palästinenser in die Städte getrieben, wo sie an den Stadträndern in Zelten lebten. Aus diesen Zelten wurden Container, später Betonblöcke und seitdem sich keine baldige Lösung für die Flüchtlingsfrage abzeichnete, fingen viele Camp-Bewohner an Häuser zu errichten. So hielt mein Taxi nicht wie von mir vermutet in einem Zelt-Meer, sondern in den schmalen Gassen eines Ghetto-ähnlichen Viertels: Al-Azza Camp.
In einem dieser flachen Häuser wohnt Echlas, eine Dame die durch ihre Muskelschwäche seit Geburt an körperlich eingeschränkt ist, aber nachdem sie in ihrer Jugend von einer israelischen Siedlerin angefahren wurde ist sie an den Rollstuhl gebunden. "Wie lebt man hier mit einem Rollstuhl?" Ich kam nicht umhin, mich das beim Betreten ihres kleinen Hauses zu fragen. Es ist ein Leben in der Nische, ein Leben abhängig von Hilfe, ein Leben, in dem man sehr viel Geduld aufbringen muss.
Das lernte ich sehr schnell, als ich mit Echlas und anderen Freiwilligen zusammen den Souk, den Markt in Bethlehem besuchte, Echlas dabei über Geröll half, den rasenden Verkehr stoppte um mit dem Rollstuhl die Straße zu überqueren, und immer wieder alternative, befahrbare Wege fand. Ich bewundere diese Frau sehr, wie sie es geschafft hat, ihrem sehr eingeschränkten Leben zu entfliehen und ihre kleinen Freiheiten zu genießen. Seit dem Tod ihrer Mutter, sie sich ihr Leben lang um Echlas kümmerte, organisiert sich Echlas ihre Selbstständigkeit mit Hilfe internationaler Freiwillige, die sie über ihre Webpage erreicht, selber auswählt und dann ihren Aufenthalt koordiniert.
Echlas liebt Unabhängigkeit. Deswegen lehnt sie auch die finanzielle Hilfe ihrer großen Familie ab, die ihrem liberalen Leben, allein als Frau, die gerne reist und Internationals hostet, argwöhnen. Sie ist eine Kuriosität und lebt in dem ständigen Spagat, innerhalb ihrer palästinensischen Gesellschaft zu leben und doch liberal und unabhängig als Frau zu leben. So verstand ich irgendwann auch ihre strengen Regeln, wenn es um Jungs geht: Ja nur keine Aufmerksamkeit erregen, sich gut mit Kleidung bedecken, keine Jungs alleine treffen, nicht spät abends noch unterwegs sein, nicht auf der Straße oder in Cafés rumlungern.
Ich war so enttäuscht - Sollte sich all die Vorurteile über arabische Männer bestätigen, die westliche Medien verbreiten? Als ungezügelte Frauenverächter? Tatsächlich habe ich die Stellung der Frau in der palästinensischen Gesellschaft in unserem Camp als sehr schwierig erlebt: Natürlich kann ich meine deutsche Vorstellung von Gleichberechtigung nicht auf diese Gesellschaft ohne Adaption übertragen, Frauen hier haben Möglichkeit zur Selbstverwirklichung, allerdings in einem ganz anderen Rahmen und abhängig von der finanziellen Situation der Familie. Aber ich, als ausländische Frau, habe ich mich in diesen Umständen sehr eingeschränkt gefühlt. Und ich spürte den Druck, dem Echlas ausgesetzt ist: Unter keinen Umständen seine wacklige Stellung als Frau, den Respekt, den einem als ehrenvolle Frau entgegengebracht wird, riskieren.
Viel schlimmer aber war für mich die Angst und die Ungewissheit: Wird es heute zu einem erneuten Clash kommen? Wird es eine Provokation geben, werden Jungs aus dem Camp Steine werfen? Tränengas? Nächtliche Durchsuchungen, vielleicht sogar mit Waffen? Das Leben im Camp ist immer angespannt, man ist hilflos der politischen Entwicklung ausgeliefert, der Entscheidung anderer und dem Zufall, am falschen Ort zur falschen Zeit zu sein. Auch wenn ich diese Angst nicht wirklich bewusst wahrnahm, ich merkte es an meinen Albträumen und meinem unruhigen Schlaf.
Natürlich maße ich mir einiges an, nach 4 Wochen in Palästina über das Leben in Camps zu schreiben. Aber ich möchte diese eindrückliche Erfahrung teilen, ich möchte damit verstanden werden und verstehen: Es gab unglaublich schöne Tage, Nischen und Ausflüchte, aber das Leben im Camp ist menschenverachtend.
Echlas Webpage: https://eiplc.wordpress.com/