Lakritzbonbon
Ein Lakritzbonbon klebt unter meinem Fuß.
Wie ist der da nur hingekommen?
Während ich im schaukelnden Zug sitze, habe ich Zeit, um euch von meinen Erfahrungen und Gedanken zum European Voluntary Service (EVS) zu berichten.
Ich bin Selma, 18 Jahre alt und lebe seit mittlerweile 8 Monaten in Gouda, Niederlande. Hier wohne ich in einer Lebensgemeischaft mit fünf geistig leicht bis mittelschwer Gehandicapten (L'Arche). Auf der ganzen Welt bestehen im Moment 137 dieser Wohngemeinschaften. Bevor ich mit meinem EVS begonn, hatte ich noch nie von L'Arche gehört.
Als ich das Thema dieses Wettbewerbs sah, war für mich von Anfang an klar, dass das EVS für mich persönlich überwiegend aus "filled time" besteht.
Vor genau einem Jahr hatte ich mich bei verschiedensten Entsendeorganisationen in Deutschland beworben, mit dem Ziel ein Jahr in den Niederlanden zu leben und so viel wie möglich von Sprache, Land und Kultur mit zu erleben. Ansonsten waren meine Kriterien sehr frei und so bekam ich auch die verschiedensten Angebote für ein Freiwilliges Soziales Jahr. Bei meiner letztendlichen Organisation habe ich mir anfänglich die wenigsten Hoffnungen auf Erfolg gemacht, weil das Bewerbungsformular sehr zeitsparend einzufüllen war. Auch sonst musste ich -nicht so wie Freiwillige anderer Organisationen- relativ wenig für mein EVS tun. Für das EVS braucht man z.B. keine Förderkreise, weil die EU für jeden Freiwilligen eine Menge Geld bezahlt. Das finde ich sehr unterstützenswert.
Vor allen Dingen die Seminare können stattfinden, weil die EU diese Mittel bereitstellt.
Das Pre-Departure Training in Deutschland war für einige Freiwillige andere Organisationen größtenteils "killed time", aber mit hat das Reden über mögliche Probleme und der Austausch die Angst und größten Bedenken vor dem Auslandsjahr genommen. Leider mussten wir in wenigen Tagen viel Informationen bekommen, sodass kaum Zeit blieb, um die anderen kennen zu lernen.
Darum muss ich jetzt leider sagen, dass ich beinahe keinen Kontakt mehr zu den Freiwilligen meines Pre-Departure Trainings habe.
Mein On-Arrival Training einen Monat nach Ankunft in den Niederlanden hat mir in Sachen Netzwerk aufbauen und Kontakte knüpfen viel mehr geholfen. Das lag wohl vor allen Dingen auch an den beiden Trainern, die das Programm ganz nach unseren Wünschen und Bedürfnissen ausrichteten. Durch Gruppengespräche und gemeinsame Projekte hat sich unsere multikulturelle Gruppe geformt. Nach diesem Training war ich den europäischen Steuerzahlern sehr dankbar, denn nur durch ihren Einsatz konnten wir z.B. am letzten Abend zusammen essen gehen.
Als das Midterm-Training kam, waren wir alle überrascht, denn die Zeit in den Projekten ist erstaunlicherweise nur so dahin geflogen. Dieses Training diente, um zu checken, ob man seine Zeit gut gefüllt hatte und alle Ziele, die wir beim On-Arrival Training notiert haben, auf dem Weg der Erfüllung waren. Also: sehr gefüllte und erfüllte Zeit.
Was mir bei allen Seminaren auffiel, war, dass deine Zeit mit dem EVS im Ausland wirklich davon abhängt, welches Projekt du wählst und bekommst. Jedes Projekt ist anders. Durch diese Vielfältigkeit ist es auch schwierig eine allgemeingültige Aussage über den Sinn eines solchen Jahres zu treffen.
Was ich erfahren habe, ist, dass in meinem Projekt die Freiwilligen unersetzbar sind. Das vor allen Dingen auch, weil sie die Arbeit von den Hauptassistenten machen. Diese arbeiten 75% und der Freiwillige 100%. Das ist ungerecht, aber es stand von Anfang an so in meinem Vertrag. Wenn man mit der Arbeit im Projekt ganz große Probleme hat, die sich auch nach mehreren Malen ansprechen nicht lösen, dann kann man die "National Agency" kontaktieren. Die Mitarbeiter müssen dann dafür sorgen, dass die Probleme beseitigt werden. Zur Not können sie den Projekplatz auch löschen. Es ist gut zu wissen, dass man einen "großen Bruder" hat, der einem bei Bedarf zur Seite steht.
Dadurch, dass man als Freiwilliger unersetzbar ist und benötigt wird, tun die Projekte meiner Meinung nach auch eine Menge für dich. So wurde beispielsweise das Gehalt meiner Mitfreiwilligen auf den Betrag von mir hochgestuft. In meinem Fall wurde auch viel für meine spätere Zukunft getan. So habe ich um für eine hochschulische musikalische Aufnahmeprüfung üben zu können, ein Keyboard geliehen bekommen und darf wöchentlich auf dem Klavier bei meiner Vorgesetzten zu Hause üben. Nicht zu vergessen: meine Mitbewohner, die mein tägliches Geübe ertragen.
Ich könnte an dieser Stelle auch einen Beitrag über die Vor- und Nachteile des Lebens in einer Wohngemeinschaft einfügen, aber glücklicherweise variiert die Wohsituation je nach Projekt.
Um aus deinem EVS eine "filled time" zu machen, ist es ganz besonders wichtig, dir über deine Ziele von diesem Jahr klar zu werden. Auf den Trainings haben wir auch gelernt, den Fokus nicht zu verlieren. Um diese Wünsche wahr werden zu lassen, braucht man natürlich viel Eigeninitiative. Hat man diese nicht, dann wird aus einer möglichen "filled time" schnell eine gekillte.
Ab dem fünften Monat durfte ich im Projekt eigene Events organisieren. Die Assistenten stehen mir dabei natürlich helfend zur Seite. So konnten wir schon von einem Gruselworkshop, einem Umwelttag und einem Filmabend genießen. Außerdem bin ich zweite Mentorin einer Hausbewohnerin, führe Gespräche mit ihr und wir gehen zusammen in die Stadt. Für die Verantwortlichkeit habe ich mich selbst entschieden. Doch es gibt auch hier Grenzen auf die man achten muss. Meine Vorgängerin wohnte in einem anderen Haus, wo vieles unorganisierter war. Sie war auch größtenteils für die Medikamente verantwortlich. Durch den Stress während des EVS konnte es dazu kommen, dass der Arzt ihr später einen leichten Burn-Out diagnostizierte.
Dann sollte man doch besser sein Netzwerk nutzen und so viel Zeit wie nur möglich außerhalb des Projekts verbringen.
Auf dem Seminar hat man im besten Fall schon Freiwillige kennengelernt, die im ganzen Land verteilt sind. Die sollte man auf jeden Fall besuchen. Mir ist bei solchen Besuchen besonders der Austausch von Erfahrungen wichtig, weil man so neue Dine erfährt (ich bekomme das Geld für meine Kontaktlinsen von der Versicherung zurück bezahlt - Jippieh!).
Doch auch dafür ist wieder Eigeninitiative nötig, denn von selbst regeln sich solche Reisen selten.
Schwierig ist es für mich gewesen Niederländer außerhalb meines Projekts kennenzulernen. Obwohl ich in einem Chor singe und ins Fitnesszentrum gehe, kenne ich eigentlich keinen Heimischen in meinem Alter. Das ist schon sehr schade und ich würde es gerne auf meine ungünstigen Arbeitszeiten zurückschieben, aber ich sehe am Beispiel anderer ja, dass es klappen kann.
Als letztes Kriterium möchte ich die Möglichkeit zu einem kompletten Neustart nennen. Zu Beginn deines Projekts kennt dich dort niemand und es sollte ohne Vorurteile auf dich zugegangen werden. Jeder von uns hat so seine Charaktereigenschaften, von denen er nicht weiß, wo die herkommen und die auch eigentlich ganz schnell wieder verschwinden sollen, oder? Das EVS bietet dir die Möglichkeit dich aufs Neue selber kennenzulernen, so wie du wirklich bist.
Zum Schluss möchte ich noch mitteilen, dass ich die Erfahrungen meines Europäischen Freiwillgen Dienst auf keinen Fall missen möchte. Ich habe für mein Leben gelernt und wünsche allen Freiwilligen das selbe zu!
Einer der wichtigsten Punkte für mich war zu lernen vom Leben mit all seinen killed und filled Aspekten zu genießen. So eine Zeit kann man (leider) nur einmal mitmachen. Jeder, der mich über mein EVS fragt, bekommt garantiert eine positive Antwort.
Noch einmal zurück zum Lakritzbonbon. Den habe ich an meinem Schuh kleben dank des EVS, den Seminaren, dem Netzwerk das wir aufgebaut haben und meinen neu gefundenen Freunden, die ich jetzt besuchen fahre!
Mit vielen Dank für eure Aufmerksamkeit,
Selmchen
PS: Wenn ihr noch detaillierter wissen wollt, wie es mir hier geht, dann schaut doch mal auf meine Beiträge (http://www.youthreporter.eu/benutzer/selmchen/)
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