La maladie italien
Italien, jedes Mal aufs Neue ein Erlebnis. Wo das An-der-Kasse-Stehen länger dauert, es Meer und feinste Delikatessen gibt. Tschechien hat das nicht. Es gibt kein Meer, nur Fischteiche, kein gelato, sondern zmrzlina. Was bleibt einem anderes übrig, als sich ins Flugzeug zu setzen und ein paar Tage adriatische Sonne zu tanken?
La Serenissima, die Stadt im Wasser, Venedig. So anders, so gar nicht Tschechien. Das Antonym der Anonymität, ein Ort, der zum Verweilen einlädt. „Verweile doch! Du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehn!“ Zugrunde, doch nicht zu Grunde, das ist in Ordnung, alles andere wäre mit Boot unklug. Menschen aus ganz Europa hatten es vor. Nicht für ein Jahr, sondern nur für einen einzigen Tag: den Tag der Vogalonga. Italiener, Franzosen, Engländer, Schotten, Ungarn, Tschechen, Slowaken, Niederländer und Deutsche: eine Auswahl dessen, was dort in der Lagune und in den Kanälen paddelte, ruderte und dümpelte. Eine internationale Zusammenkunft, gelöst von Problemen, ein gemeinsames Ziel verfolgend, währenddessen eine Stadt bestaunend, die in ihrer Einzigartigkeit die Kluft zum Herkömmlichen nur noch vergrößert.
Vergessen war Náchod, diese trockene Stadt im nassen Norden. Ein Ort ohne alten Glanz, dafür mit Wohnbatterien. Hoffnungsbauten, die ihre Zukunft in der Höhe sahen, während Venedig in der Peripherie zu verlaufen scheint wie Karamellsauce auf einer Portion Panna cotta. Möchte man in Venedig ein blaues Firmament sehen, muss man nur nach oben schauen, wo immer man ist. Der einzige Ort, an dem man in Náchod immer blau sieht, ist die Toilette der einzigen Bar. Das blaue Licht in der Kabine soll die Drogenabhängigen davon abhalten, ihre Adern zu finden, sie jedenfalls nicht an diesem Ort zu finden. Venedig ist durchzogen von blauen Adern, doch schwimmt in ihnen kein Heroin. Stattdessen tausende Boote mit so mancher Heroine als Besatzung.
Schon am Flughafen war ein Gefühl der Fremde bestimmend. Italienisch, das war weder germanisch noch slawisch. Französisch war da noch irgendwo, doch das reichte nicht. Ein paar Worte zur Flugbegleiterin, das notwendigste. Dennoch verstand ich deutlich weniger als in Prag, wo noch alles auf Tschechisch ging. „Dobrý den. Lístek na letiště, prosím.“ „Chtěl bych vepřový řízek s bramborem.“ Dieses Kauderwelsch verschaffte mir immerhin eine Fahrkarte zum Flughafen und ein Schweineschnitzel mit Kartoffeln.
Ein langer Fahrsteig brachte mich zum Bootsanleger, denn, und das ist ein Alleinstellungsmerkmal Venedigs: hier geht es nur noch mit dem Boot weiter. Zumindest wenn man, wie ich, zu einer der Inseln musste, wobei der Lido streng genommen ja “nur“ der Teil einer sogenannten Nehrung ist. Fünfzehn Euro einfach, dafür könnte ich siebeneinhalb Stunden Bus fahren in Tschechien – was man nicht alles macht (zahlt) für einen Platz an der Sonne, na Bülow? Eine Stunde später kam ich auf dem idyllischen Lido an. Unter anderem Schauplatz in Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“. Nicht gerade empfehlenswerte Lektüre unmittelbar vor einem Aufenthalt in der Stadt, gerade in so wilden Zeiten.
Der Folgetag diente der Besichtigung Venedigs, das in jedem Fall eine Reise wert ist. Endlich wieder Espresso, richtiger Espresso. Italien, das ist, wenn man neben der schmutzigsten Straßenecke die beste Pizza bekommt. Eine Pizza, die von anderen vielleicht als „ganz in Ordnung“ bezeichnet wird, für mich jedoch die beste war, die ich in den letzten Monaten aufgetischt bekam. Nun lässt man sich die Haare nicht vom Postboten schneiden und ebenso wenig sollte man in Tschechien nach dem heiligen Pizza-Gral suchen. „Heilig“ sowieso schon einmal nicht in Tschechien. Über die tschechische Angewohnheit, zur Pizza Ketchup zu reichen, bin ich überdies noch nicht wirklich hinweggekommen. Eine dieser Marotten, von der man in keinem Reiseführer etwas liest. Eine knackige Pizza, frisch aus dem Ofen, und was steht daneben? Eine Flasche Ketchup. Die Italiener würden mich lynchen, bäte ich um eine Portion Ketchup auf meiner Pizza.
Natürlich vermisst man so einiges. Deutsches wie Tschechisches. Die Ordnung, die Ruhe, das Für-sich-Sein, solche Dinge. Italien kann das nicht bieten, doch für ein Wochenende soll es in Ordnung gehen. Zumal es einhergeht mit blauem Himmel, strahlender Sonne, Sandstrand und einem Meer, das man hernehmen könnte, um darin Pasta zu kochen, so warm war es.
Nachdem Venedig jeder gesehen hatte, ging es zurück, einen Abend noch zur Entspannung, dann würde es ernst! Gemütlich ließ man im Restaurant den Tag ausklingen. Wieder für Gedeck zahlen, das war neu. Zwei Euro, kein Beinbruch, in Tschechien dagegen ein halber Stundenlohn. Man vergleicht andauernd die Preise, kann einfach nicht anders, kann nicht glauben, wie man sechzehn Euro für einen Teller Nudeln bezahlen kann. Über vierhundert Kronen, das klingt sogar noch besser als „zweiunddreißig Mark“, der altehrwürdige Maßstab, an dem sich alles nach 2002 zum Kauf Angebotene messen muss. Das ist eben auch Italien, insbesondere Venedig. Schlanke Silhouetten sind gern gesehen, schlanke Geldbörsen nicht. Eine Freiwillige besuchte neulich Venedig – während der Biennale. Nicht die beste Zeit, um einen günstigen Schlafplatz zu finden. Schließlich fand sie eine Gruppe Mädchen, die sie mit in ihr Hostelzimmer nahmen. So wunderschön die Stadt am Tage ist, so gnadenlos kann sie bei Nacht sein, sollte man nicht bereit sein, für die Schönheit zu bezahlen. Ein bisschen wie mit Imperia beim Konzil von Konstanz.
Von Finanziellem war am nächsten Tag keine Rede mehr. Es ging ins Boot, dann stundenlang übers Wasser, vorbei an Inseln und anderen Booten, durch enge Passagen und freies Wasser. So manchen Kampf lieferte man sich: gegen die nicht sonderlich beliebten Ruderer, KajakfahrerInnen, die mitten auf der Strecke stehen blieben und gegen Paddler, die einfach nicht paddeln wollten. Wie instabil so ein Boot bei suboptimaler Gewichtsverteilung werden kann, durften wir zudem schon 15 Minuten nach Start erfahren. An Strapazen haben wir nichts ausgelassen, doch so hart es manchmal auch war, so atemberaubend eindrücklich war die restliche Zeit. Man traf unzählige Leute. Anfangs noch kollegial, am Ende ging es darum, dass einen der andere in den engen Kanälen Venedigs nicht kentern lässt. Und dennoch: an diesem Tag zählt nicht die Flagge, unter der man fährt, oder welche Sprache man spricht, sondern das gemeinsame Vorhaben, die Vogalonga.
Später als so manche Ruderboote aus England kamen wir ins Ziel, holten unsere Medaillen, Urkunden und Bananen ab. Diese hatten zwar Umgebungstemperatur, waren aber trotzdem eine Gnade nach all dieser Ertüchtigung.
Abermals ging man abends in ein Restaurant, diesmal noch ausgiebiger als tags zuvor. Meerblick, was will man mehr? Einmal noch Italien auskosten, sein Essen kosten, trotz der Kosten.
Am Tag danach ging es zurück, wieder nach Prag, alles war noch wie früher, einen anderen Saft hatten sie im Flughafenrestaurant, doch noch immer oder schon wieder stand das Korean-Air-Flugzeug direkt vor der Panoramaverglasung. Das würde eine tatsächlich ganz andere Welt sein – Italien ist in dieser Hinsicht fast noch gewöhnlich. Es reichte mir schon, sei es auch nur für zwei Tage gewesen. Nicht mit dem Schiff, sondern dem Bus, später der U-Bahn ging es zum Busbahnhof. Der Busfahrer kam zwei Minuten zu früh, fuhr pünktlich ab. Weit und breit nur noch Land, kein Wasser mehr. Man gewöhnte sich schnell wieder an die vertraute Welt, obgleich man das Gefühl nicht loswurde, gerade erst aus einer anderen emporgestiegen zu sein. Man brachte Sommersonne in die winterbleiche Abendlandschaft, genoss im Stillen die Eindrücke aus der Wasserstadt. Neben dem manchmal so trüben Leben in Tschechien war Italien dieses Alltagsaddendum, das es vielleicht brauchte. Denn manchmal muss man sich vom Objekt entfernen, um eine neue Perspektive zu gewinnen.