Kalt und laut, warm und taub
Es ist kalt in Moldau und die Heizungen noch nicht angeschaltet. Warmes Wasser ist ebenso rar. Da ist es kein Wunder, wenn Lockenjule nachts schon davon träumt, dass es in der Wohnung warm und gemütlich ist.
Heute ist schon wieder Mittwoch, der 21. Oktober. In zwei Monaten um diese Zeit sitze ich zu Haus im warmen Wohnzimmer, heimgekehrt für zwei Wochen Feiertagsurlaub, und werde wahrscheinlich genau dasselbe denken wie jetzt: Die Zeit vergeht schneller, als man denkt.
Besonders schnell vergeht sie nachmittags, wenn man arbeiten ist oder unterwegs draußen in der Stadt. Schnell vergeht sie auch während und nach dem Essen. Nur nachts und in den anderen Tagesstunden werden einem mehr bewusst erlebte Minuten beschert, als man sich wünscht. Warum? Weil es kalt ist. Für Ende Oktober ist das Wetter draußen (welches zwischen nächtlichem ersten Frost und maximal 15 Grad mittags schwankt) natürlich äußerst angebracht. Und eigentlich auch wunderbar zu genießen, eingepackt in dicke Sachen und aufgewärmt durch Fußmärsche etc. Drinnen allerdings sieht das anders aus.
Es ist ja nicht so, dass wir keine Heizung hätten. Nur leider ist die in den 200.000 Wohnungen hier eher zu dekorativen Zwecken angebracht, zum Zeichen des Fortschritts. Denn die Regierung bestimmt, wann die städtischen Heizwerke zu arbeiten beginnen. Und noch sind die kleinen Sparfüchse der Meinung, dass ein wenig Survivaltraining und Rückbesinnung auf Zeiten (bzw. hier: ländliche Gegenden) ohne Strom, Gas und Warmwasser den Bewohnern ja nicht schaden kann. Daher müssen wir alle in unseren Zimmern frieren, in dicker Jacke und Schal frühstücken und nachts so wenig wie möglich umdrehen, damit keine kalte Luft unter die Decke(n) kommt.
Rosi und ich schätzen die Temperatur in meinem Zimmer, welches zwei Wände nach draußen und viel undichte Fensterfläche hat auf 15 Grad. Ihres ist kleiner, hat nur eine schmale Wand nach außen und wir verbringen die meiste Zeit darin; daher sind es bei ihr bestimmt sogar 17 Grad. Auf gut deutsch frieren wir uns hier den Arsch ab. Bitte, niemand werfe es mir vor, wenn ich Weihnachten fett und unsportlich nach Hause komme. Die ständige Friererei zieht nämlich auch folgende Phänomene nach sich: Maximale Ausnutzung der Zeit, die man am Tag und in der Nacht im Bett verbringen kann; möglichst wenig Bewegung außerhalb des Stuhls am Tisch, den man mit Decken umwickelt besetzt, ständiger Konsum von Tee, Keksen, Nutella, Honig, Weißbrot, heißer Milch, heißer Milch mit Nutella, Nüssen, Nüssen mit Honig, Nüssen mit Nutella, Weißbrot mit Honig und Nutella, Keksen mit Schokoüberzug und Extranutella, Tee mit Honig (nein, kein Tee mit Nutella)… Ihr versteht.
Zudem die Neuerfindung der Wärmflasche ganz im Sinne des Wortlauts: Eine ehemalige 1,5-Literflasche Sprudelwasser nun gefüllt mit heißem Wasser, natürlich aus dem Kocher, nicht aus der Leitung. Heißes Wasser aus der Leitung ist hier auch ein Luxus, in dessen Genuss man nur selten kommt. Und eins kann ich sagen, wenn man morgens vor lauter Frieren nur noch die heiße Dusche als letztmöglichen Ausweg sieht und dann bibbernd in der Dusche steht und das Wasser nur LAUWARM wird, dann kriegt man richtig schlechte Laune. Und dann kann wieder nur die Nutella helfen.
Es ist ein Teufelskreis. Ein Teufelskreis, der nur von der Obrigkeit selbst durchbrochen werden kann, und zwar mit dem Tag, an dem endlich die Heizungen angestellt werden. Man munkelt, jenes geschehe erst im November. Die Chefin meiner Organisation hier meinte aber, dass es schon diese Woche passieren soll. Jeden morgen also wache ich mit dem Gedanken auf: Ist meine Nase kalt? Mist, ja, immer noch. Soviel zum Thema kalt und laut. Ach ja, „laut“ übrigens vor allem, weil die Fenster ja undicht sind und man jeden Hund mitbekommt, der grad ne Katze reißt oder von einem erbarmungslosen Mercedesbesitzer überrollt wird.
Warm und taub, der zweite Teil der meiner Meinung nach stilistisch äußerst ausgefeilten Überschrift, bezieht sich auf ein Ereignis am letzten Sonntag. Am Samstagabend habe ich in einer Bar eine Gruppe von Theaterstudenten aus Schweden kennen gelernt; diese waren durch andere Freiwillige zu unserer Großgruppe dazu gestoßen. Sie gehören zu der weltweit agierenden Organisation „Clowns without frontiers“, Clowns ohne Grenzen also. Diese Clowns (unter ihnen auch ein Inder und eine Finnin) waren für zwei Wochen nach Moldawien gekommen, um hier im Lande in Schulen und Heimen aufzutreten und die Kinder für die Bühne zu begeistern.
Ich unterhielt mich ziemlich lange mit dem Inder der Gruppe, und schließlich bot er mir an, am nächsten Morgen mit einigen der Clowns in ein Internat auf dem Land zu fahren und eine Show mitzuerleben. Das besondere an jener Show war übrigens, dass alle zuschauenden Kinder gehörlos sein würden. In meinem Kopf wog ich ab: Ein Erlebnis der besonderen Art, noch dazu wieder etwas vom echten Moldawien sehen, dafür aber um sieben aufstehen müssen. Hm. Erlebnis- um sieben. Einzigartig- nur vier Stunden Schlaf. Kommt nie wieder- danach kann ich wieder schlafen gehen. Na gut, ich komme mit.
Wahrlich, wäre jemand anderes an meiner statt mitgefahren und hätte mir davon berichtet, ich hätte mir in den A gebissen, dass ich zu faul zum Aufstehen war. Zum Glück war ich es nicht, auch wenn mich mein eigenes Vorhaben an besagtem Morgen beim Wecker Klingeln noch so gar nicht überzeugte. Aber wenn man erstmal angezogen ist, gefrühstückt hat und losgelaufen ist zum abgemachten Treffpunkt, dann kommt die Euphorie allmählich zurück. Und dann saß ich auch schon im Minibus, zusammen mit sieben Clowns, einen moldawischen Schauspieler und einem äh Theaterfutzi, ebenfalls aus Moldawien. Der Schauspieler und der Theaterfutzi wollten sich genau wie ich als Zuschauer das Erlebnis nicht entgehen lassen, wie Theaterstudenten versuchen, taube Kinder zum Lachen zu bringen.
Aber erstmal fuhren wir, eine Stunde ins Land hinaus oder hinein, wie man will. Entlang schier unbegrenzter graubrauner Hügel, Wälder und durch kleine Städte und Dörfer, denen Chisinau so gar nicht ähnelt. Ich unterhielt mich mit dem übrigens sehr netten Theaterfutzi über seine Projekte (er hatte schon in Deutschland, Frankreich und Estland Vorführungen inszeniert), meine Vita und das bevorstehende Ereignis. Dann kamen wir an, irgendwo im nirgendwo im Norden des Landes. Dort stand dann ein relativ großes U-förmiges neues Gebäude, inmitten von Weisen und Nichts, ach doch, etwas Dorf und einer Klosteranlage, die darf ja nicht fehlen.
Der Theaterfutzi erzählte mir, dass bis 1995 die Kinder in der Klosteranlage gewohnt hätten, da die SU die geistliche Nutzung verboten und die Kinderheime dorthin verlegt hätte. Dies stimmte übrigen tatsächlich, wir haben die Chefin des Kinderheimes befragt. Aber zurück zur Ankunft. Wir kamen dort an, und das erste was wir hörten war… nichts. Ruhe, Stille, wärmende zaghafte Sonnenstrahlen. Ein paar schüchterne Mädchen lugten durch die Vorhänge, ein paar Vögel sangen. Dann kamen die ersten Kinder aus den Gebäude, nur Jungs, und begrüßten uns. Einige freudige Laute, aber kein Geschrei, kein Gepöbel. Aber dermaßen deutlich Gefühle ausdrückende Gesichter, wie ich sie noch nie bei Kindern erlebt habe. Freude, Aufregung, Neugier.
Dann kamen auch einige Mädchen, und mit ihnen zwei Betreuer. Diese konnten sprechen. Begrüßten uns, zeigten uns den Weg zur Turnhalle, in der die Aufführung stattfinden sollte. Während die Clowns ihre mobile Bühne aufbauten, schauten der Theaterfutzi und ich uns im Gebäude um und erhaschten dann draußen noch einige Sonnenstrahlen. Das Gebäude war für moldawische Verhältnisse sehr gut in Schuss, glich in etwa einer renovierten deutschen Plattenbaugrundschule. Nur eben größer und mit Schlafräumen. Draußen in der Sonne erzählte mir der Theaterfutzi dann noch eine sehr berührende Geschichte. Ich meinte vorausgehend nämlich, dass einige Kinder hier ja hören und normal reden könnten, das war mir in der wachsenden Kinderschar aufgefallen. Da erzählte er mir, dass er einst ein Behinderteninternat besucht hätte, mitten im moldawischen Nirgendwo. Da traf er unter anderem auf ein siebzehnjähriges Mädchen, welches körperlich und geistig vollkommen gesund und fit war. Sie gab preis, dass ihre Eltern sie nur hierher geschickt hätten, da es billiger sei als das Mädchen auf eine staatliche Schule zu schicken und zuhause zu kleiden und zu ernähren. Nur bedeutet dies für sie, dass sie nie ein normales Schulabschlusszeugnis bekommen wird, und ihre Chancen auf eine Arbeit vollkommen aussichtslos sind. Und sie sei nicht die einzige, der das so erginge.
Während ich über die Geschichte nachdachte, gingen wir zurück zur Turnhalle, denn die Vorstellung sollte gleich beginnen. Inzwischen hatten sich vor dem Eingang über 100 Kinder allen Alters eingefunden und redeten in freudiger Aufregung mit und ohne Worte. Von allen Seiten wurde ich angetippt und die Kinder stellten mir Fragen, fragten mit ihren Händen und Augen. Selten hab ich so hilflos zwischen so vielen Kindern gestanden, die nichts weiter erwarteten, als dass ich ihre einfachen Fragen beantwortete. Aber selbst als man mir erklärte, dass Reiben am Daumen und zeigen auf die Nase die Frage nach dem Namen bedeutet, konnte ich nicht antworten. Nur entschuldigend lächeln und versuchen, anderweit mit ihnen in Kontakt zu treten.
Da stellte sich plötzlich ein kleines Mädchen vor mich, um die Finger ein Band gebunden und zu einer Figur gezogen. Dieses Spiel kannte ich, die ich hunderte Kilometer entfernt und 10 Jahre zurück im vollen Besitz meines Gehörs diese Spiel erlernt hatte, noch immer. Und schon schob ich meine Finger zwischen die Bänder und zog eine neue Figur, dann wieder sie, und dann... wusste ich nicht mehr, wie man die Bänder greifen muss. Mit einem Mal standen zehn kleine Jungs und Mädchen um mich und versuchten mir zu zeigen, wie ich meine Finger halten muss. Und grade als dem erfolgreichen Fortgang des Spiels nichts mehr im Weg gestanden hätte, wurden die Kinder in die Turnhalle zur Vorstellung gebeten.
Schon im Bus hatte ich mir überlegt, wer von den Anwesenden eine gute Show liefern würde und wer nicht. Nach der Show hab ich mir fast eingeredet, eine gewisse Menschenkenntnis zu besitzen. So fand ich es direkt verletzend für die Kinder, dass ein weiblicher, äußerst fehlkostümierter und unlustiger Clown alle seine Nummern auf ein Akkordeon aufbaute. Auf ein Instrument also, dessen Musik wohl einen großen Teil des mir und auch allen Kindern unverständlichen Humors ausmachte. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie schwer gekonnt Humor ist, noch dazu mit sinnlich beschränktem Publikum. Aber soweit denken kann jeder, selbst eine anscheinend völlig von sich selbst überzeugte konzeptlose Möchte-gern-Künstlerin. Man entschuldige meinen Ausbruch, aber das hätte wirklich nicht sein müssen.
Nun ja, alles in allem war die Show absolut kein Knaller, aber zumindest doch der Wochenhöhepunkt für die Kinder, die zumindest 70 Prozent der Witze verstanden und auch mit Gelächter und Applaus rentierten. Während die Clowns dann abbauten, schauten der Theaterfutzi und ich uns noch die Klosteranlage an, welche mit den Worten ‚typisch orthodox‘ gut beschrieben ist. Als wir dann zurückkamen, wartete das Mittagessen auf uns.
Nun ja ‚Essen‘ ist möglicher Weise aus Sicht einer deutschen verwöhnten Rotzgöre das falsche Wort. Natürlich hab ich tapfer mitgegessen. Die Suppe aus Kartoffeln, Reis und irgendwelchen roten Augen hab ich auch ganz brav aufgegessen. Auch den Kohlsalat. Aber bei gekochtem Fisch, lauwarmer rosaner Fischsoße und Nudeln musste ich aufgeben. Man, war dat ein Fraß. Das kann man gar nicht in Worte fassen. Und das war Sonntagmittag in diesem Internat. Mein lieber Schwan, nie wieder ein schlechtes Wort über deutsches Schulessen.
Nach diesem Hochgenuss ging’s dann wieder in den Bus zurück nach Chisinau. Die Fahrt habe ich im Wesentlichen verpennt, die wohlige Wärme des Autobusses genießend. Jetzt werde ich auch müde. Es ist ja auch schon wieder gleich Mitternacht. Vielleicht träume ich heute Nacht wieder dasselbe wir gestern Nacht (ehrlich!): Ich wache auf und die Heizungen sind warm, ich wecke sofort Rosi und erzähle ihr die Neuigkeit, dann kuscheln wir uns beide an die Heizung und singen zusammen. Ja, es gibt sie tatsächlich, die kleinen geheimen Wunschträume.