Kako preživjeti na Balkanu*
Der Balkan, das sind für die meisten Deutschen Kriegsberichte bei Spiegel TV, Rakija zum Frühstück, Gastarbeiter in Jogginghosen passend zu den gefälschten Adidas-Schuhen; vor allem jedoch ein weißer Fleck auf der europäischen Karte. Ein kleines Ein-Mal-Eins über eine Region, deren Kultur uns so fremd und entfernt scheint - und dennoch nur zwei Flugstunden von München entfernt ist.
Nach dem fünften Glas muss ich dann doch ablehnen. Es ist immerhin erst 15 Uhr am Nachmittag, die Sonne brennt erbarmungslos vom wolkenlosen Himmel auf unsere Köpfe herab und wir stehen irgendwo in dem kleinen Vorgarten unseres Vermieters, wenige Gehminuten entfernt von den alten Gassen Dubrovniks. Während wir also das fünfte Glas seines hausgemachten Kräuterschnapses eingeschenkt bekommen, fährt der alte Mann fort, wie einstudiert aus seiner eigenen Biografie zu erzählen. Am Ende unserer kleinen Unterhaltung wissen wir zwar, dass seine Eltern aus den bosnischen Bergen vor einem halben Jahrhundert hierher an die kroatische Küste ausgewandert sind; dass seine Frau exzellenten Bohneneintopf zubereiten kann mit Kräutern aus dem eigenen Beet, haben jedoch dabei völlig vergessen zu fragen, wo wir in der Nähe unser Geld umtauschen können.
Hartnäckig halten sich nicht nur Vorurteile gegenüber den Staaten Ex-Jugoslawiens jenseits der Alpen, in den "zivilisierten" Breiten europäischen Standards, ins Grübeln kommt auch schnell derjenige beim Versuch, einem Westeuropäer zu erklären, was denn nun eigentlich den Balkan ausmacht. Ist es die Mentalität der Menschen, Lieder anzustimmen während der Kaffee auf dem Gasherd kocht? Sind es dreisprachige "Rauchen ist tödlich"-Warnungen auf den bosnischen Zigarettenpackungen? Wo fängt die Balkanhalbinsel eigentlich an, wo endet sie? Und warum gehört ein scharfes "Jebem ti Mater" (Übersetzung spare ich mir jetzt) eigentlich zum guten Ton jeder Unterhaltung?
Ein Staat, drei Sprachen oder Warum man mit Kroaten nie Serbisch reden sollte
Die ersten Sonnenstrahlen haben gerade einmal vor 20 Minuten die bewaldeten Bergkämme um Sarajevo überquert, noch liegen die wie verstreut und zum Teil unvollendeten Einfamilienhäuser im Schatten von Trebević und Bjelašnica, und dennoch wird es schwer, sich im Gedränge des Flohmarktes nicht irgendwo zwischen den hastig aufgebauten Ständen zu verlieren. Eine Miniatur dessen, was wir als Balkan bezeichnen, ist dieser mit Menschen und versteckten Kostbarkeiten überfüllte Markt. Da stehen schon die gefälschten Adidas-Schuhe und glitzernden Gucci-Handtaschen neben dem mesnica, wo das an Spießen aufgehängte Fleisch Scharen von Fliegen anzieht; hier mischt sich der Geruch gebratenem Fettes vom Ćevapčići-Stand mit den Abgasen der alten VW's, deren Kofferräume als provisorische Verkaufstresen genutzt werden. Ebenso unmöglich wie den Überblick zu bewahren, ist es auch sein eigenes Wort zu verstehen: kreischende Kinder rennen aufgeregt zwischen den Beinen umher, aus den zum Verkauf angebotenen alten Radios ertönen Lieder jugoslawischer Vergangenheit, über all dem schallt aus den Lautsprechern nahegelegener Minaretten der Ruf des Muezzins zum Gebet.
Kaum eine andere Region kann für Fremde so unverständlich, geheimnisvoll und zugleich auch verwirrend wirken wie die Staaten des Balkans. Da wäre zum einen die grundlegende Frage, wer denn nun eigentlich dazugehört? Fragt man die Kroaten und Slowenen, so werden diese ganz sicher bestreiten, Teil des zerstrittenen, von Korruption und scheinbarer Anarchie durchzogenen Balkans zu sein; ist man ja immerhin besonders stolz darauf, sich seit 2013 bzw. 2004 offiziell als Mitglied der Europäischen Union bezeichnen zu können. Bosnien-Herzegowina, nicht ohne Grund als das weltweit komplizierteste Staatssystem abgestempelt und Garant für Kopfschmerzen unter jedem Diplomatenkreis, ist das Paradebeispiel für den nationalistischen Geist, der unverändert über den ehemaligen Ländern Jugoslawiens schwebt. Fast scheinen mittlerweile schon gutnachbarliche Beziehungen zwischen den Serben und ihren Nachbarn im Kosovo realistischer als die bosnischen Hoffnungen auf einen baldigen EU-Beitritt - aber auch nur fast, wenn nicht wieder proserbische Züge in das Kosovo einreisen oder Polizeirazzien zu bürgerkriegsähnlichen Vorgängen ausarten. Dass Mazedonien - pardon, Nord-Mazedonien - nach fast 30 Jahren Dauerstress mit den Griechen einen Namensstreit, an Sinnlosigkeit nur schwer zu überbieten, schließlich doch (scheinbar) lösen konnte, kann als Erfolg gewertet werden - oder unterstreicht letzten Endes doch nur eine explosive Mischung aus Sturrheit und scharfem Nationalismus - dobrodošli na Balkanu, willkommen auf dem Balkan!
"Das ist der Balkan hier
eine duftende Blume
völlig unverständlich
für die ganze Welt."
Refrain aus dem Lied "Ovo je Balkan" (1993) der serbischen Rock-Gruppe Bajaga i Instruktori
Wem das alles zu abstrakt klingt, sei vor einem Besuch auf dem Balkan gewarnt. Erstes Fettnäpfchen, in welches man als Fremder treten kann, wäre da die Diskussion um die "unterschiedlichen" Sprachen. Zeigt sich im bosnischen Vielvölkerstaat am besten, hier wohnen die Orthodoxen, die Muslime und die Katholiken auf engstem Raum zusammen, der von der Größe gerade mal mit Niedersachsen vergleichbar ist. Erster Tipp also: Kennst du den Gesprächspartner nicht, solltest du ihn besser nicht direkt in eine der drei Religionsschubladen einsortieren (er oder sie könnte sehr empfindlich reagieren), ein neutrales "deine Sprache" oder "dein Land" behütet dich vor ersten Missverständnissen. Ist man also in katholischer Umgebung, so spreche ich Kroatisch, unterwegs mit Orthodoxen wird Serbisch gesprochen und unter muslimischen Bosniaken ist Bosnisch die bevorzugte Sprache. Schon durcheinander gekommen? Dann kommt jetzt der verwirrendste Fakt: Abgesehen davon, dass sich Serbisch auf das kyrillische Alphabet stützt, sind alle drei Sprachen identisch - als Freiwilliger aus Sarajevo kann man sich also ebenso gut in Zagreb, Belgrad oder Podgorica verständigen. Besonders skurill wird es daher im Alltag - Raucher werden so mit drei (identischen) Sprachen auf bosnischen Zigarettenpackungen gewarnt, Verkehrsschilder in Bosnien-Herzegowina sind stets in lateinischer und kyrillischer Schrift verfasst.
Von langen Rakijanächten, minenversäuchten Tälern und bosnischen Bäckereien
Liest sich der sorgsame Tourist vor seiner Reise in die entlegensten Gegenden des Balkans noch schnell die Reise- und Sicherheitsempfehlungen des Auswärtigen Amtes durch, so könnte sich die Abenteuerlust schnell in ein von Sorgen gequältes Gesicht verwandeln. Da wird vor organisierter Bandenkriminalität in Albanien gewarnt, vor Minen in den bosnischen Gebirgen, die abseits befestigter Straßen noch als Überbleibsel der Kriegswirren drohen, von Politikern berichtet, die in in den nördlichen Regionen des Kosovos im Kugelhagel starben. Und spätestens wenn der Vorschlag kommt, man solle sich doch besser in die sogenannte "Krisenvorsorgeliste" einschreiben, fällt die Entscheidung doch lieber wieder auf die Costa Blanca oder die Toskana. Verübeln kann man es dem Socken-in-Sandalen-Touristen nicht, bedauernswert sind vordergründig die Erlebnisse, die somit nur in der Fantasie weiter leben werden.
Denn eines ist gewiss - die Vielfalt des Balkans stellt viele andere beliebte Regionen Europas in den Schatten; nicht umsonst findet sich Bosniens südlicher Landesteil, die Herzegowina mit ihren mittelalterlichen Dörfern und zerklüfteten Tälern, unter den besten zehn Reisezielen Europas 2019! Bereits letztes Jahr konnte sich der Balkan als der inoffizielle Gewinner des Rankings fühlen, präsentierte Lonely Planet immerhin unter den "Top Ten Places to Visit in Europe" allein vier Destinationen aus der Region. So unterstrichen neben dem gebirgigen Kosovo und den einsamen Stränden der Kleinen Kykladen auch die albanische Lebenslust in Tirana sowie die weinreichen Gegenden des slowenischen Vipava-Tales die noch größtenteils unentdeckte Schönheit des Balkans.
"Der Balkan ist mir nicht die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert."
Otto von Bismarck hatte bereits während der Balkan-Konferenz 1878 eine ganz eigene Meinung vom Balkan
Wer die Chance bekommt, von Einheimischen in die eigenen vier Wände eingeladen zu werden, sollte kein zweites Mal überlegen müssen. Wichtig ist dann nur, sich mit großem Hunger in die liebevoll eingerichteten Wohnzimmer zu setzen, und nicht schon vorher in einer der vielen (an fast jeder zweiten Häuserecke) pekare dem Geruch frischen Bureks oder Somuns nachgegeben zu haben. Denn der Gast ist König, das wird kaum irgendwann deutlicher, als wenn die baka (Großmutter) gefühlt für die halbe Nachbarschaft kocht und auch keine Zeichen akzeptiert, dass man eigentlich schon seit zwei Portionen satt ist.
Was nun am Balkan so fasziniert? Es ist schwer zu sagen, ob es nun die traumhaften Küsten an der Adria und spektakulären Schluchten des Dinarischen Gebirges sind, oder vielleicht doch die Mentalität der Menschen, die Offenheit und Gastfreundlichkeit. Offen und direkt spricht man aus was man denkt, ohne groß ein Blatt vor den Mund zu nehmen, und am besten diskutiert es sich nun mal bei gekochtem bosnischem kava, serviert in einer traditionellen džezva (kupferne Mokkakanne). Schon seit Jahrhunderten bestimmt der Kaffee den Tagesrythmus der Menschen auf dem Balkan; kein Wunder, wird er auch in Ruhe und nicht in unter einer Stunde getrunken, ist also mehr Lebensgefühl als jeder hektische Coffee-to-go oder überzuckertes Heißgetränk von Starbucks.
"Rakija hält mich am Leben, er gibt mir immer wieder neue Kraft,
Ich habe weder Bruder noch Schwester, ich habe niemanden,
Nur Rakija ist mein Glück und meine Trauer."
Ausschnitt aus dem Lied "Rakija" der Belgrader Rockband S.A.R.S.
Ob freiwillig oder nicht, irgendwann wird jeder Besucher auf dem Balkan in die Situation geraten, Rakija zu probieren - ganz egal, ob auf einen Marktplatz, wo er den ortsunkundigen Touristen gern zum Kosten gereicht wird, während einer Beerdigung, auf Hochzeiten und Geburtstagen sowieso. Wenn also die Schotten ihren Whiskey abends trinken und auf keiner Feier in Russland der obligatorische Wodka fehlen darf, so ist jener hausgemachte Obstbrand der ganze Stolz des Balkans. Wobei es jedoch nicht der Balkan wäre, würden die Menschen auch beim Trinken keine Gründe für Diskussionen finden - immerhin steht die Frage auf dem Spiel, welches Land denn nun den besten Rakija produziert. Unabhängig davon, ob sich nun der makedonische oder doch der serbische Rakija als Gewinner fühlen darf, verbindet er vordergründig die Menschen; erzählt schließlich auch ein Sprichwort, dass sich die Menschen vom Balkan tagsüber zwar anfeinden und beschimpfen, abends jedoch zusammen an einem Tisch sitzen, Rakija trinken und gemeinsam singen können. Die gern beschriebene Seele des Balkans, vielleicht liegt sie wirklich irgendwo auf dem Grund der mit Rakija abgefüllten Schweppes-Plastikflaschen.
"Heute fährt kein Bus mehr - versuche es morgen nochmal!"
Was bleibt, nach einem Besuch auf der sagenumwobenen Balkanhalbinsel, sind mehr als nur weitere Bilddateien auf dem heimischen Computer. Es sind vielmehr die prägenden Erfahrungen, auch in unmöglichen Situationen gelassen zu bleiben. Wenn der Bus von Novi Sad zurück nach Sarajevo, rund sieben Stunden Fahrzeit voneinander entfernt, aus unerklärlichen Gründen doch nicht fährt, und man nichts weiter machen kann, als den Ratschlag des Buspersonals zu befolgen: "Heute fährt der Bus doch nicht, aber versuche es morgen früh einfach nochmal." Im Gedächtnis bleibt die Gastfreundschaft der Einheimischen, beeindruckend wie die unberührte Landschaft; die letzten Urwälder Europas, Wandern, ohne dass Touristen die Nationalparks überrennen. Und du lernst unglaublich viel, über eine Region, die zwar in die Europäische Union strebt, zugleich aber immer noch unter ihrer dunklen Vergangenheit leidet, von Korruption und Stagnation gezeichnet, aber dennoch nie ihre Lebensfreude abgelegt hat. So oder so weiß der Balkan mit kleinen Überraschungen und Geschichten zu überzeugen - und wenn es eben die Biografie deines Vermieters in Dubrovnik ist.
* Wie man auf dem Balkan überlebt