Interessiert? Interessant!
Wie sie mich begeistert hat.
Wow. Ich traute meinen Ohren nicht. Ich hoffe, ich konnte meine Gesichtszüge ausreichend kontrollieren, sodass meine Augen sie nicht ansprangen.
Heute war mal wieder Sprechstunde. Jeden Mittwoch kriege ich Besuch von einer interessanten Schülerin. Ich weiß, interessant ist nicht das typische Adjektiv, um eine Schülerin zu beschreiben. Sie ist interessiert und studiert hart. Sie ist wissbegierig, lernt derzeit drei Fremdsprachen, liest Bücher über chinesische Geschichte und stellt vieles in Frage. Das ist bei chinesischen Studenten kein Normalzustand, oft fehlen die Anreize zum kritischen und selbständigen Denken. Dadurch, dass sie dem Normalfall nicht entspricht, ist sie sowohl bei Schülern als auch bei Lehrern eher weniger beliebt. Um ihre Neugier zu befriedigen, fordert sie nämlich oft viel ein. Zeit, Energie, Geduld, Verständnis. Mich stört das nicht. Ich freue mich ihr helfen zu können. Und ganz ehrlich: Ihre Wissbegierde fasziniert mich.
Heute hat sie mich wirklich umgehauen. „Ich möchte meine Gedanken mit dir teilen“. Daraufhin erklärte sie, dass sie den Einfluss der Sprache auf das Denken und die Wirklichkeit interessant finde. Seit sie vor zwei Jahren versucht habe programmieren zu lernen, sehe sie Sprachen als eine Art Programm. Jede Berufsgruppe habe eine eigene Sprache, gewisse Codes. Musik sei ebenfalls eine eigene Sprache. Die Abhängigkeit von Sprache und Denken störe sie allerdings. Zum Beispiel, unterstütze sie als Chinesin natürlich den chinesischen Präsidentin. Mit einer anderen Nationalität sähe das vielleicht anders aus. Die „herrschenden Umstände“ würde sie so sehr gerne überwinden. Sie wisse jedoch, dass das unmöglich ist. Ihre Herkunft und ihr Umfeld machen sie schließlich aus.
All diese Gedanken hatte sie ohne jeglichen Austausch entwickelt. Weder mit Lehrern, Mitschülern noch Freunden könne sie darüber sprechen. Deshalb sei sie zu mir gekommen. Diese Schülerin zeigte mir, dass sie zu komplexen Gedankengängen fähig ist - ohne die Anreize, die ich und meine Mitschüler damals benötigten. Aus eigener Kraft setzte sie sich mit diesem Thema auseinander und erkannte, dass sie sich darüber austauschen möchte. Gemeinsam entwickelten wir weiterführende Gedanken.
Ich lobte sie für ihre tiefsinnigen Überlegungen. Ich bin wirklich dankbar, dass sie sie mit mir geteilt hat. Während der Abiturvorbereitung in Deutschland haben wir uns mit genau diesen Gedanken beschäftigt: Sprache – Denken – Wirklichkeit. Um diese Beziehungen zu verstehen, haben wir uns mit verschiedenen Sprachwissenschaftlern beschäftigt. Meine Abiturklausur bezog sich ebenfalls auf dieses Thema. Ich finde es wahnsinnig spannend. Es hatte mich auch noch dem Abitur weiterhin beschäftigt. Schließlich erlebe ich hier täglich scheiternde Kommunikation, unterschiedliche Weltansichten und Denkmuster.
Später fragte die Schülerin mich, wieso deutsche Jugendliche so oft krank werden und wieso man Tee mit Honig trinkt. Naja, ihre Gedanken sind halt, sagen wir mal, vielseitig. Ihre Gedankengänge weichen häufig von meinen ab. Sie stellt Fragen, die ich nie fragen würde. Das macht den Austausch mit ihr unglaublich interessant für mich.