In Großbritannien zum Arzt gehen?
Viel gelobt und dennoch verhasst. Das NHS.
Wer nach England zieht muss sich zwangsläufig mit dem englischen Gesundheitssystem, dem „National Health System“ oder kurz „NHS“, auseinandersetzen. Dieses ist nämlich komplett anders organisiert als in vielen anderen europäischen Ländern. Es wird komplett durch Steuergelder finanziert und ist somit für jede in Großbritannien wohnhafte Person und Besitzer einer europäischen Krankenversichertenkarte gebührenfrei zugänglich. Was sich zunächst fair und gut anhört, ändert sich dann aber, sobald man selbst in der Position ist, dass man selbst zum Arzt muss.
Als erste Hürde steht man vor der Frage, wo denn nun die erste Anlaufstelle ist. Da gibt es die „GPs“ (General Practictioners),“Phlebotomy centers“ (Blutabnahme Center), „Walk-In centers“, „Urgent Care centers“, und „A&E (Accident & Emergency) services“. Und dann ist immer noch nicht die Frage nach Fachärzten geklärt. Als nicht-britische Person kann es da schon ein bisschen dauern bis man sich einen Durchblick über alles verschafft und versteht, wann man wohin muss.
Hürde Nummer 2 ist es dann einen Termin zu bekommen. Auf Grund von immer weiter steigendem Ärztemangel kann die Wartezeit bis zu 3 Wochen betragen. Kein Wunder, das demnach A&E und Urgent Care durchgehend überfüllt sind, Wartezeiten manchmal bei bis zu 20 Stunden liegen, Krankenhausbetten durchgehend belegt sind und 1/3 der Ärzte in der Facharztausbildung schon im 1. Jahr abbrechen um ins Ausland zu gehen. Auch Krankenhauskeime sind hier etwas viel gefürchtetes.
Gegründet wurde das NHS 1948 von der „Labour-Partei“ nachdem Großbritannien nach dem 2. Weltkrieg wirtschaftlich extrem geschwächt war und schon länger die Vorstellung hatte eine hervorragendes Gesundheitssystem für alle unabhängig von Reichtum oder Armut möglich zu machen. Die drei Grundprinzipien waren, dass es den Bedürfnissen aller gerecht sein sollte, zu jedem Zeitpunkt kostenlos sein sollte und, dass es auf dem klinischen, nicht dem finanziellen, Bedarf basieren sollte. In Kraft trat es schließlich am 5. Juli 1948 und besteht somit heute seit fast 70 Jahren.
Verändert hat sich seitdem viel. Zahnbehandlungen sind größtenteils kostenpflichtig oder privatisiert und Rezeptgebühren muss jeder Mensch unabhängig von Einkommen trotzdem zahlen.
Bei jeder Parlamentswahl ist das NHS ein großer Streitpunkt zwischen den verschieden Parteien. Eines haben aber alle Parteien gemeinsam: alle wollen es verbessern um den negativen Ruf loszuwerden. Fragt man hier Menschen auf der Straße über ihre Meinung zum NHS so wird es vom Großteil der Bevölkerung gelobt. Man ist hier unglaublich stolz auf dieses einzigartige System. Sich in Behandlung begeben will sich aber trotzdem nicht jeder unbedingt gerne. Ein Großteil der Bevölkerung würde, wenn sie die finanziellen Mittel hätten lieber eine Privatversicherung abschließen.