In den Norden
Ein Wochenende in Riga: "Diese Stadt hätte von Charles Dickens geschrieben sein können."
Diese Stadt hätte von Charles Dickens geschrieben sein können. Hohe Hausreihen türmen sich nebeneinander zu Mauern aus Geschichte auf, die schmalen Gassen von Rīgas Altstadt lassen uns wie in einem Labyrinth aus einem nordischen Märchen von einer Kreuzung zur nächsten wandeln. Ein Mann spielt an der verzierten Holztür eines Kafejnīca Blockflöte während sein Hund aufgeregt am Schaufenster hochspringt, das bis auf den letzten Platz voll ist mit Brot, Kuchen, Torten, Keksen aller Art.
Die Katzenfigur auf dem Haus der kleinen Gilde, die ihr Hinterteil ehemals gen großer Gilde streckte, wurde nun umgesetzt und schaut dem Treiben der Stadt gemächlich zu, den Strickwaren- und Bernsteinständen am Markt, den Eisfischern auf dem Fluss Daugava, deren Angelplatz Gefahr laufen kann abzubrechen, sodass sie auf einer Eisscholle neben den Möwen hertreiben, bis sie mit Booten wieder eingefangen werden, Universitätsgebäuden, Statuen, entenwatschelndüberfluteten Parks und Tauben. An sämtlichen Gassenwänden der Hauptstadt Rīgas scheint in Zitronenschrift dieser eine Satz geschrieben zu stehen, man müsste ihn nur sichtbar machen: Was für ein schöner Ort!
Wenn ich eines über Rīga sagen kann, dem Rīga, das ich kennengelernt habe, dann, dass es inspiriert.
Nach einer typisch litauischen Woche aus mangeldem Schlaf, neuen Bekanntschaften vom seltsamen Menschen mit Vogelnesthaaren bis zum sentimentalen Philosophen, der Ian Curtis erschreckend ähnlich sieht, und einer Runde Schaukeln an der Burg von Kaunas, machten wir uns auf den Weg in die größte Stadt des Baltikums, während uns Waldtiere nahe der Autobahn und unsere Gedanken über unsere Zeit hier begleiteten.
Von Zeit zu Zeit passieren Dinge im Leben, die man einfach Glück nennen muss. Während ich in Kaunas meinen Europäischen Freiwilligendienst verbringe, arbeitet meine Schwester nun für drei Monate im Nachbarland Lettland.
Ich hätte nie geahnt, dass es so gut tut, das Gefühl, im Baltikum zu leben, auf diese Art teilen zu können. Natürlich sind Lettland und Litauen nicht dieselben Länder, und fragt man die jeweiligen Einwohner wird einem natürlich gesagt, dass riesige Unterschiede zwischen ihnen bestehen, aber dennoch: Vieles hier in Lettland erinnert mich an litauische Gewöhnlichkeiten, ich bin zwar weit, weit davon entfernt, die Sprache zu verstehen, aber ein paar bekannte Wörter schnappe ich ab und an auf, hier wird Vanille-karūms anstatt Mohn-sūrelis gegessen, fürs Danken sagt man „paldies“ und nicht „ačiū“, und die Einflüsse der verschiedenen ehemaligen Besetzer, etwa Polen, Deutsche, oder Russen, sind deutlicher zu erkennen, aber ich fühle mich immer noch wie in einem Teil des Baltikums, und es fühlt sich gut an. Denn eines vereint sie alle, der Stolz und die Freunde über die Freiheit ihres Landes, brīvība Latvija, laisva Lietuva. Eigentlich seltsam, dass ich mich hier so angesteckt fühle vom Flaggenschwingen und Traditionenwahren, obwohl ich nie großen Wert auf Patriotismus und Nationalstolz gelegt habe. Mit ihrer Liebe zur Freiheit geht auch die Abneigung gegen die Russen einher, was in Litauen höchsten in Vilnius zu beobachten ist, wo etwa dreißig Prozent Russen leben, in Rīga aber eindeutig sichtbar wird. Mit den Stereotypen im Kopf ist es wie mit jeden anderen schlechten Eigenschaften – man möchte sie ablegen wie ein Kleid, nur sind Eigenschaften nicht aus Stoff genäht. Natürlich habe ich Stereotypen im Kopf, und auch wenn mein Bild vom typischen Russen längst widerlegt wurde durch neue Bekanntschaften, fällt es doch auf, dass ich mich in Rīga wieder an meine alte Version der prolliglauten Pelzträger zurückerinnert fühle. Mit der wachsenden Gemeinschaft neureicher russischer Einwanderer tut sich eine riesige Schere zwischen arm und reich auf, die schwer zu überwinden sein wird. Durch die Weltwirtschaftskrise hart getroffen steht Lettland momentan in einer schwierigen Position, doch umso schöner zu sehen, dass die Letten ihr Land lieben, ihre Sprache lieben, und natürlich ihre selbsterkämpfte Freiheit.
Vor dem lettischen Freiheitsdenkmal, das mich sehr an meine geliebte Freiheitsstatue in Kaunas erinnert, bleiben wir stehen und halten inne, in unseren Köpfen schwimmen all die Gedanken über das, was diese Frauenfigur mit den Sternen in den Händen wohl für die Einwohner bedeuten mag. Zwei Soldaten marschieren langsam vorm Denkmal auf- und ab, Möwen und Krähen ziehen ihre Kreise am Himmel, ein Straßenmusiker versucht sich am Saxophon. Später würde ich über diesen Moment ein Gedicht zu schreiben versuchen und es über mein Bett hängen. Im Park füttern Leute von jung bis alt die Massen von Enten, wir füttern uns selbst und starten unsere Tour durch die Stadt, sie von oben wie einen Puppenhausspielplatz zu bewundern, den glücksbringenden Eselhuf der psychedelischen Statue der Bremer Stadtmusikanten zu betätscheln, white russian trinken, den vielleicht lächerlichsten Job Europas bestaunen dürfen, den Fahrstuhlbediener des Kirchenaussichtsturms. Würde ich hier wohnen, würde ich wohl viel zu oft im Gauja, einer im Stile einer sowjetischen Küche eingerichteten Kneipe, mit dem Teufelsgebräu „brenguļu alus“ versacken, mich viel zu häufig von den Sauftouristen in der Altstadt genervt fühlen, die lieber in die „Pussy“ Bar gehen als ins „Leningrad“, eine weitere Retro-Kneipe, in der die Leute anscheinend in den achtzigern stecken geblieben zu sein scheinen. Ich würde versuchen mit Reinis, dem vielleicht größten Mann der Welt, eine Reise durch ganz Lettland zu planen, und würde nach Oskars Tour durch den Stadtteil „Moskau-Vorstadt“ schauen, ob er mir demnächst noch „the wild north“ zeigen könnte. Sowieso seien ja alle Letten noch wild und heidnisch, Fakt. Aber ich lebe ja nicht hier, und das ist auch gut so, denn mein Kaunas, auch wenn sich ganz Litauen darüber lustig macht, Kaunas sei nur die größte Tankstelle zwischen Vilnius und Klaipėda, bedeutet mir viel. Doch ich muss sagen, dass ich jedem, der Rīga so empfindet, wie ich es empfunden habe, beglückwünschen möchte, dort leben zu können. Ein Ort, der inspiriert, der etwas Märchenhaftes, Edles hat, der irgendetwas Herzliches an sich hat, was mich immer wieder gerne zurückkehren lässt.
Die erste Nachricht, die ich wieder zurück im litauischen Telefonnetz bekomme, kommt von meiner Arbeit. Und ich gehöre halt doch hierher, nach Litauen, hier werde ich gebraucht.
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