Ich bin ich
Ein unvergessliches Jahr neigt sich dem Ende zu. Es war aufregend. Es war emotional. Aber vor allem war es das prägendste Jahr meines Lebens.
Jede Entscheidung, die man trifft beeinflusst das Leben auf eine gewisse Weise. Auch wenn die Auswirkungen kleiner, alltäglicher Entscheidungen wie die Wahl des Abendessens oder die Frage, ob nun der blaue oder der rote Pulli besser zur neuen Hose passt, zunächst total unwichtig erscheinen, ist jeder Mensch täglich hunderte Male dazu gezwungen, Entscheidungen zu treffen.
Ich habe mich im Frühjahr 2016 dazu entschieden, ins Ausland zu gehen. Mit Sicherheit keine kleine, alltägliche Entscheidung. Im Gegenteil, nach Liverpool zu gehen, war definitiv eine der wichtigsten Entscheidungen die ich bisher getroffen habe.
Als großer England-Fan habe ich natürlich nicht lange überlegen müssen, nachdem ich die Zusage für die Teilnahme am Europäischen Freiwilligendienst erhalten habe. Aber je mehr Zeit verging, desto mehr habe ich über die Auswirkungen eines Auslands-Aufenthaltes nachgedacht.
„Mit wem werde ich zusammenleben ?“ oder „Wie wird mein Arbeitsalltag wohl aussehen ?“ waren neben gefühlt 200 weiteren Fragen ganz oben auf meiner Liste.
Die meisten davon wurden glücklicherweise mehr oder weniger schnell geklärt. Die Frage nach meinem Arbeitsalltag jedoch nicht.
Ich wusste, dass ich in einer Schule für Kinder mit verschiedensten Formen von Behinderung arbeiten würde.
Ich wusste auch, dass die Arbeit mit behinderten Kindern eine Herausforderung werden würde und ich mit Sicherheit Zeit brauchen würde, mich in meinen neuen Job einzufinden. Immerhin hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nie in so einem Bereich gearbeitet. Gerade deshalb habe ich vermutlich erwartet, auf irgendeine Weise auf die Arbeit dort vorbereitet zu werden. Jedoch war dies leider nicht der Fall. Man hat uns ins kalte Wasser geworfen und obwohl diese Methode in manchen Lebensbereichen vielleicht gar nicht schlecht ist, war dies für mich unglaublich überfordernd.
Ich war nicht nur plötzlich in einem fremden Land, getrennt von meinem sozialen Umfeld, sondern musste mich auch noch mit einem für mich emotional sehr belastendem Job auseinandersetzten.
Obwohl es mir deshalb wirklich nicht gut ging, wollte ich nicht aufgeben. Ich wollte einfach keine Schwäche zeigen und dachte, wenn andere vor mir das geschafft haben, kann ich das auch. Ein Indianer kennt schließlich keinen Schmerz. Das war jedoch der falsche Ansatz.
Es klingt zwar wie ein Klischee aber das wichtigste, was ich dieses Jahr gelernt habe ist, dass reden wirklich Wunder bewirken kann. Probleme verschwinden nun mal nicht, wenn man sie ignoriert, nur damit man sich selbst oder anderen nicht eingestehen muss, dass man seine Grenzen hat.
Nachdem die Menschen um mich herum wussten, wie es mir geht, ging alles langsam bergauf.
Mein Job wurde zwar nicht leichter, aber ich habe mehr Hilfe bekommen und habe mich an meinen Alltag dort gewöhnt. Ich wusste, was mich erwartet und Zwischenfälle konnten mich nicht mehr so leicht aus der Ruhe bringen.
Was noch viel wichtiger ist: Ich habe eingesehen, dass meine Gefühle nichts mit Schwäche zu tun haben, sondern, dass es vollkommen legitim ist, sich unwohl und überfordert zu fühlen.
Vielleicht bin ich dann eben kein Indianer, aber das möchte ich auch gar nicht sein.
Ich bin Verena. Die offene, lebensfrohe Verena, deren lachen man sogar auf 100m Entfernung hört.
Dass ich mich verändern würde war mir klar. Das Ausmaß dieser Veränderungen habe ich jedoch komplett unterschätzt. Ich bin unglaublich an mir gewachsen, bin selbstbewusster, offener und weiß das Leben viel mehr zu schätzen. Ich habe gesehen wie es anderen Menschen geht und das nicht das Schicksal sondern der Umgang damit die entscheidende Rolle im Leben spielt. Ich habe unglaublich liebe, inspirierende Menschen kennengelernt, hatte Höhen und Tiefen, habe gelacht und geweint.
Trotz alldem bin ich ich geblieben und habe die Entscheidung, nach England zu gehen, nie bereut.
Ja, ich habe mich verändert. Aber das heißt ja nicht, dass man mein lautes Lachen nicht mehr aus 100m Entfernung hören wird und darüber bin ich wirklich froh.
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