Herrin deiner Schritte
Ein Jahr in Venedig. Das Wetter: wechselhaft. Ein Jahr als Herrin der eigenen Schritte in dem Land des Chaos und des guten Essens. Ein Jahr der gefüllten Zeit.
Das beste Jahr deines Lebens wird es sein und es werden goldene EU-Sterne und Götterfunken vom Himmel regnen. Du wirst international leben und dabei ins Elysium eintreten. Du wirst ein echter Europäer sein und dabei die Welt retten. Dabei wirst du noch über deine Kultur reflektieren und schließlich als perfekter Mensch zurück kehren. Du wirst ein blauer EU-Schmetterling sein, der über Wiesen der Hoffnung flattert und Liebe und Harmonie verbreitet!
Cut.
Du bist eine frischgebackene Abiturientin und brichst auf in die weite Welt. Ganz allein packst du deinen großen Rucksack – Wörterbücher, Erwartungen und Schlafsack. Ein paar Facebook-Accounts hast du gesehen, viele Mails geschrieben und einen Activity Agreement unterschrieben. Auf alle Fragen reagierst du gelassen.
Sprache? Sprachkurs bezahlt die EU.
Unterkunft? Ist schon gemietet.
Aufgaben? Kunst und Kultur, Workshops betreuen, Medienarbeit, Projektentwicklung.
Zweifel vermischen sich mit der Einfahrt des Zuges. Ein paar Tränen wischst du dir aus den Augenwinkeln, doch die Vorfreude überwiegt. Ewiger Sonnenschein und Abenteuer liegen vor dir, neue Freundschaften. Du darfst von neuem beginnen, dich selbst neu erfinden. Unaufhaltsam rollt der Zug gen Süden. Der Schaffner spricht mit dir – und du verstehst nichts. Je näher deine neue Heimat rückt desto aufgeregter bist du. Und wenn die Mentorin nicht da ist? Und wenn niemand mich versteht? Wo werde ich wohnen?
„Venezia Santa Lucia“
Mit fünf Minuten Verspätung rollt der Zug über die Ponte della Libertà, die Freiheitsbrücke, nach Venedig. Den ersten Schritt in dein neues Leben möchtest du dir merken – doch du stolperst über dein vieles Gepäck. Möwengekreische und Lärm und Staub, Sommerhitze, eine lächelnde Frau und absolute Reizüberflutung.
Von heute an wirst du lernen, dass Leben das ist, was geschieht, während du versuchst Pläne zu machen.
„You work too fast“
Die ersten Tage – neue Menschen, neue Sprache, Eis essen und Projekt verstehen. Als du deine Mentorin fragst was genau du denn eigentlich arbeiten wirst, antwortet sie dir, dass du das mit deinem Tutor besprechen wirst. Das Musikzentrum mit Ausstellungen, Tanzworkshops und europäischen Mobilitätsprojekten stellt sich als ranziger Probenraum für Heavy Metal und Drogenabhängige heraus.
Dein Sprachkurs existiert nicht. Aufgaben auch nicht. Kaum jemand spricht Englisch und das On-Arrival Training wird es vielleicht auch nicht geben.
Aber darauf bist du ja eingestellt. Abenteuer gehört dazu. Gemeinsam mit den anderen Freiwilligen entwickelt ihr eigene wundervolle Projekte – Filme wollt ihr drehen und Straßenmusikfestivals organisieren, Zeitungen schreiben und Theater spielen. Und deine Tutoren? „Soooo nice, your project!“
Der erste Enthusiasmus hält nicht unbegrenzt an – spätestens als kaum Resonanzen auf eure Ideen kommen wird dir klar: es gibt ein Problem! Und deine Kollegen benennen es sogar: „You work too fast“. Du fühlst dich so unbedeutend und unwichtig, so sinnlos. Du fragst dich warum die EU dich in so eine Lage steckt. Du bist kulturgeschockt und einsam.
Und nun? Aufregen, ausrasten, abbrechen?
Transitions
Du schmeißt dich ins Leben, machst dich auf die Suche. Soziale Kontakte, Aufgaben, andere Projektstellen. Du eilst durch die Gassen Venedigs, sitzt in der Uni, schreibst dich in einen Sprachkurs ein. Einen Chor findest du auch und du beginnst, in einem Ensemble Geige zu spielen. Du rufst Leute an, die du nur einmal zufällig getroffen hast, reist alleine durch Italien. Du nimmst Gesangsunterricht. Du beginnst in einem venezianischen Palast ein Praktikum zu machen und übersetzt eine Sprache, die du erst seit drei Monaten kennst.
Der ständige Wechsel von Leuten und Situationen belastet dich sehr, es gibt keinen ruhigen Moment. Du gibst nicht auf, du blickst nicht zurück. Du verfolgst deine Ziele, deinen Weg – den du vielleicht nie eingeschlagen hättest.
Du erkennst so viel über dich selber – wer du bist und was du magst. Was du kannst. Und nicht kannst. Vor allem aber: was wichtig ist für dich.
Es gibt dunkle Momente, in denen Schwarzbrot und Umarmungen fehlt. Verlässlichkeit und Harmonie. In denen du dich viel zu alleine fühlst, losgelöst von allem was du kennst. In denen keiner deine Witze versteht und du lernen musst für dich allein glücklich zu sein.
Manchmal fragst du dich nach dem Sinn. Nach dem Zusammenhang. Warum bist du eigentlich hier? Dann klingt irgendwo in deinem Hinterkopf etwas von Abenteuer... aber ob du darauf eigentlich noch Lust hast?
„Chi va piano, va sano e va lontano“
Und dann passiert wieder etwas. Vielleicht läufst du gerade ganz verloren durch die Stadt und du triffst grünes Bier trinkende Israelis, und ihr habt euch bei einem Konzert kennen gelernt auf dem ihr alle so wild tanztet, und ihr beschließt zusammen loszuziehen. Und du lernst so viele Menschen kennen, du lernst Sirthakis tanzen und orientalischen Bauchtanz, und die Namen von 100 verschiedenen Nudelsorten und die fremden Perspektiven.
Und eines Tages verstehst du das große Ganze hinter dem Ganzen. Alle kleinen Schritte fügen sich zu einem Jahr im Ausland, einem Jahr auf eigene Faust. Du als Herrin deiner Schritte über Brücken und Schiffe.
Hättest du gedacht, dass du im Markusdom ein Konzert spielen wirst? Bei einem Maskenball in einem venezianischen Palast arbeitest? Unter deinem Büro Gondolieri dir Lieder singen?
Hättest du je gewusst wie gut es dir in Deutschland geht? Wie wichtig deine Familie und deine Freunde sind?
Nun hast du es geschmeckt, das Leben. Du hast Zeit gefüllt.
Du lebst Europa.
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