Gebrauchsartikel
Ein Artikel über Artikel
Anfangs wunderte ich mich über eine sonderbare Eigenart, die die Tschechen hatten, wenn sie Englisch sprachen. Das Problem trat unabhängig von Alter und Person immer wieder auf. Bei den jüngeren Schülern quasi dauerhaft, doch von Zeit zu Zeit auch bei den Lehrerinnen selbst. Sätze, die ich zu hören bekam, waren zum Beispiel:
„It’s not problem.“
„Do you have car?“
„Can you read text again?“
Es klingt holprig ohne Artikel. In den ersten zwei Beispielen fehlt ein simples „a“, im dritten ein „the“. Man versteht es, doch warum werden diese Fehler gemacht?
Wir Deutschen können uns glücklich schätzen, dass unsere Sprache so eng mit der englischen verwandt ist. Viel ist seitdem geschehen, gewiss, doch die Grundstruktur hat sich noch nicht so schrecklich weit entfernt. Anders ist es mit vielen anderen Sprachen – so auch den slawischen. Die Fehlermuster sind infolgedessen gänzlich verschieden. Das Tschechische kennt keine Artikel, doch sieben Fälle. Deutsch hingegen nur vier Fälle, dafür unzählige Artikel. Hier eine vollständige Liste aller grammatikalisch möglichen bestimmten Artikel im Deutschen: „der“ (Maskulinum, Nominativ), „des“ (Maskulinum, Genitiv), „dem“ (Maskulinum, Dativ), „den“ (Maskulinum, Akkusativ), „das“ (Neutrum, Nominativ), „des“ (Neutrum, Genitiv), „dem“ (Neutrum, Dativ), „das“ (Neutrum, Akkusativ), „die“ (Femininum, Nominativ), „der“ (Femininum, Genitiv), „der“ (Femininum, Dativ), „die“ (Femininum, Akkusativ), „die“ (Plural, Nominativ), „der“ (Plural, Genitiv), „den“ (Plural, Dativ) und „die“ (Plural, Akkusativ). Die unbestimmten Artikel kommen auch noch: „ein“ (Maskulinum, Nominativ), „eines“ (Maskulinum, Genitiv), „einem“ (Maskulinum, Dativ), „einen“ (Maskulinum, Akkusativ), „eine“ (Femininum, Nominativ), „einer“ (Femininum, Genitiv), „einer“ (Femininum, Dativ), „eine“ (Femininum, Akkusativ), „ein“ (Neutrum, Nominativ), „eines“ (Neutrum, Genitiv), „einem“ (Neutrum, Dativ) und „ein“ (Neutrum, Akkusativ).
Ach, habe ich bereits die Demonstrativartikel, Possessivartikel, Interrogativartikel und Indefinitartikel erwähnt? Lassen wir die Kirche mal im Dorf. Und mal unter uns: wie sähe so eine Liste erst aus, wenn wir neben Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ auch noch Vokativ, Lokativ und Instrumental hätten?
Zu Beginn meines Aufenthalts in Tschechien war ich stets bemüht, einen “Ersatzartikel“ zu (er-)finden, da ich es als Deutscher nicht anders gewohnt war. Nun war in Tschechien jedoch scheinbar keiner in der Lage, mir verständlich zu erklären, wie es in deren Sprache gehandhabt wird. Über vier Monate hat es gedauert, bis ich mich näher damit auseinandersetzte. Einer der seltenen Fällen, in denen die tschechische Sprache mal nicht kompliziert ist. Es gäbe keine Artikel, erfuhr ich. Das bedeutete, dass ich in den vergangenen Monaten so schlecht beim Sprechen anscheinend gar nicht gewesen sein konnte. Zumindest waren es nicht die fehlenden Artikel, die mich “ausländisch“ klingen ließen. Doch wie immer ist nicht alles so einfach. In der Umgangssprache haben sich nämlich in der Tat Ersatzartikel entwickelt.
Sprache sollte man zuallererst als eine Art der Kommunikation verstehen. Als ein Medium, mithilfe dessen der Gedankenaustausch zwischen Personen stattfindet. Lediglich eine Möglichkeit, sich auszudrücken, die Gedanken universal verständlich zu untermalen. Viele Sprachen sind heutzutage inkompatibel miteinander. Manche können mit Kniffen aufwarten, die andere nicht bieten. Jede Sprache hat ihre weißen Flecken. Doch waren die Tschechen nicht unklug und ließen sich etwas einfallen. Demonstrativpronomen kennt die Sprache schließlich. Im Deutschen sind das unter anderem: „dieser“, „dieses“ und „diese“. Die Tschechen zweckentfremden sie und verwenden sie in der Funktion definiter Artikel. Diese Pseudo-Artikel lauten dann wie folgt: „ten“ (Maskulinum, Singular), „ta“ (Femininum, Singular), „ti“ (Maskulinum, Plural) und „ty“ (Femininum, Plural). Überall, wo Eindeutigkeit gefragt ist, kann das hilfreich sein. Leuten, die Tschechisch lernen, bleibt es selbst überlassen, ob sie die Ersatzartikel verwenden oder nicht. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es dann stimmiger klingt, auch wenn das aus tschechischer Sicht Unsinn ist.
Als Lehrer einer achten Klasse durfte ich diesem Teil der Grammatik eine ganze Schulstunde widmen. Mir war vorher nie bewusst, wozu es so einen Aufwand braucht. Es mag von Vorteil sein, wenn man mit einer artikelhaltigen Sprache groß wurde, denn es ist bei weitem einfacher, etwas, was man schon kennt, einfach wegzulassen, statt ohne jegliche Grundlage etwas Neues zu erlernen, wie es in unserem Fall als Deutsche die drei weiteren Fälle im Tschechischen sind. Schaut man ein paar Jahre zurück, so offenbart sich Erstaunliches. Wie viele andere Sprachen stammen wir von der indogermanischen Ursprache aus dem Neolithikum ab. Diese kannte noch keine Artikel. Die Griechen waren die ersten, die sie hatten. Moderne germanische Tochtersprachen wie Deutsch oder Englisch entwickelten sie erst viel später. Andere Sprachen folgten und deren Artikelkonzept ist zumindest im weitesten Sinne vergleichbar. Sprachen wie Bulgarisch oder Rumänisch sowie die nordgermanischen Sprachen Dänisch, Schwedisch, Norwegisch, Isländisch, Färöisch und Norn (†) weichen ab, indem sie den bestimmten Artikel als Suffix im Rahmen einer Determinationsflexion am Wortende anhängen. Die Tendenz geht allerdings weg vom synthetischen hin zum analytischen Sprachbau. Das ist wiederum gut für uns Deutsche, da unsere Sprache ebenfalls eher analytisch aufgebaut ist. So werden Informationen in Form von zusätzlichen Wörtern ausgedrückt, statt durch Morphologie an das Wort selbst angefügt zu werden.
Die slawischen Sprachen vereint, dass sie allesamt – wie auch die baltischen Sprachen – ohne bestimmte und unbestimmte Artikel auskommen. Trotzdem ist die Semantik deshalb nicht primitiver als etwa das Deutsche, denn neben der umgangssprachlichen Erweiterung gibt es auch noch tatsächlich in der Sprache verankerte Möglichkeiten, Spezifizität und Generizität auszudrücken. Dazu bedienen sie sich der Wortstellung. Diese ist nicht ohne Weiteres veränderbar. Zudem kann man in diesen Sprachen mithilfe des Aspekts Bedeutungen erzeugen, die teilweise mit der eine Artikels deckungsgleich sind. Der „Aspekt“ meint in diesem Fall den in der Linguistik, ein Konstrukt, das sich in die Unterkategorien „Imperfektiver Aspekt“, „Perfektiver Aspekt“ und „Perfektischer Aspekt“ gliedert. Es gibt also durchaus Möglichkeiten, im Tschechischen die Bestimmtheit oder Unbestimmtheit eines Substantivs zu unterstreichen.
Ich selbst gedachte nie, Tschechisch über ein dialogorientiertes Niveau hinaus zu erlernen. Dennoch war die Zeit hier prägend. Erstmals war ich mit einer slawischen Sprache konfrontiert, musste wieder ganz von vorne anfangen, und dort, am Anfang, dort begann Interesse zu keimen, offenbarten sich plötzlich ungeahnte Sprachdistrikte, konnten neue Erkenntnisse gewonnen werden. Ein paar der substanziellen Achillesfersen wurden offengelegt. Und so ist die Sprache, wenn auch ungesprochen, anstelle vieler anderer Dinge, der Stoff, aus dem Geschichten sind.
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