Gasttochter auf Zeit
Oder: Wie ich die chinesische Gastfreundschaft empfand
Letzte Woche landeten wir in Shandong, die Heimatprovinz meiner Freundin. Als wir 2,5 h auf unseren Bus warteten, genoss ich die Sonnenstrahlen. Auf die hatten wir zuvor in Chengdu leider verzichten müssen. Mit platt gegessenem Hintern kamen wir in Dongying an. Das ist eine Kleinstadt, ohne U-Bahn, mit vielen Neubausiedlungen und Landstraßen. Die Schule, zu der meine Freundin hier früher gegangen ist, hat trotzdem 20 Klassen pro Jahrgang – erfuhr ich später. So klein ist die Stadt also dann doch nicht.
Zu Hause wurden wir von den Eltern empfangen. Trotz Kommunikationsschwierigkeiten fühlte ich mich von Anfang an sehr gut aufgenommen. Bei der Begrüßung zwischen meiner Freundin und ihren Eltern fiel mir auf, dass sie einander nicht umarmten. Später am Abend schlief Moana dafür zusammen mit ihrer Mutter in einem Bett. Der Vater schlief im Nebenzimmer. Meine Freundin ist 19 Jahre alt und ist vor 1,5 Jahren ausgezogen.
Am nächsten Tag hatte ich die Möglichkeiten mich auf zwei spezielle kulinarische Neuheiten (für mich) einzulassen. Zikaden-Larven, über die ich erst im Nachhinein erfuhr, was sie waren, und Stinkfrucht, die, wenn man sie ist, eigentlich gar nicht stinkt.
Am Montag begann dann die große Familienwoche. Zuerst ging es zur Familie des Vaters. Wir fuhren zum Haus der Großeltern. Auch hier gab es keine Umarmungen zur Begrüßung und auch sonst fehlte es an SmallTalk, dem Austausch von Neuigkeiten, Gelächter. Die Stimmung war sehr angespannt. Während wir in einem Restaurant aßen, war es entweder still oder es wurde über das Essen gesprochen. Und nach dem Mittagessen ging es dann auch schon wieder heim, ohne Verabschiedung. Ich hatte das Gefühl, dass die sechs Stunden Fahrt und das einstündige unangenehme Essen in einem ungleichen Verhältnis standen. Das ist wohl eines der Beispiele dafür, wenn Traditionen aus Prinzip eingehalten werden, obwohl es dem eigentlichen Interesse der Betroffenen widerstrebt.
Die nächsten Tage verbrachten wir bei der Familie der Mutter. Es war eine andere Welt. Das Verhältnis meiner Freundin zu ihren Großeltern, ihrer Tante und ihrem Cousin ist sehr eng. Es wurde sehr viel Zeit zusammen verbracht - wenn auch viel davon vor dem Fernseher. Die abendliche Verdauungsspaziergänge empfand ich als sehr schön. Besonders, weil die Initiative von den Großeltern (74 und 78) kam. Dass sie aufgrund von Herzproblemen zwischendurch Sitzpausen einlegen müssen, hält sie trotzdem nicht davon ab, jeden Abend den Hintern hoch zu kriegen. Ansonsten waren die wichtigsten Tagesprogramme die Mahlzeiten. Wenn viele Leute in China zum Essen zusammen kommen, steigert sich dadurch nicht nur die Masse des Essens, sondern vor allem die Vielfalt. So standen zum Mittag- und Abendessen immer mindestens 7 Teller/Schüsseln/Körbe auf dem Tisch, von denen sich jeder etwas nehmen konnte. Dass alle von den gleichen Tellern essen, erhöht meiner Empfindung nach die Bedeutung von „Gemeinsam Essen“. Dadurch konnte man mich aber auch sehr gut beim Essen beobachten und wollte mich dazu ermutigen noch etwas anderes zu essen. Und ich habe wirklich viel gegessen und probiert. Mein Liebling war frittiertes Schweinefleisch mit Lotoswurzel bzw. grüner Möhre (ja, das gibt es).
Ich konnte dennoch nicht zählen, wie oft ich von Mutter, Vater, Tante, Onkel, Opa, Oma dazu ermutigt wurde noch mehr zu probieren und zu essen. Mit der Zeit lernte ich, dass es absolut in Ordnung ist auch nach dem dritten Mal abzulehnen. Der Wunsch, dass ich satt werde und das Essen genieße, war eben sehr hoch. Sodass sofort nach jeder Mahlzeit getrocknete Früchte, Schokolade und Nüsse auf den Tisch gestellt wurden. Heißes Wasser wurde mir grundsätzlich immer nach geschenkt, sobald jemand sah, dass meine Flasche halbleer/halbvoll war.
Hinzu kam auch, dass ich nicht alleine das Haus verlassen sollte. Sie hatten Sorge, dass ich das als unhöflich empfinden könnte. Diese Sorge ging so weit, dass ich morgens keine drei Minuten Fußweg von der Wohnung der Tante zu den Großeltern gehen durfte. Meine Freundin musste zurück kommen und mich abholen. Und an einem Abend, wo ich noch etwas spazieren gehen wollte - eigentlich, um etwas alleine zu sein und Musik zu hören – wurden meine Freundin und ihr Cousin dazu aufgetragen, mich zu begleiten.
In den restlichen Tagen, die wir bei den Eltern verbrachten wurde ich außerdem noch mit vielen Spezialitäten als Mitbringsel ausgestattet. Und während dieser ganzen Woche, war das einzige, das ich bezahlen durfte, ein Busticket für 2 Yuan.
Mein Fazit. Chinesische Gastfreundschaft. Wow. Der Familie war es unfassbar wichtig, dass ich mich wohl fühle, satt werde, gut schlafe, mir warm ist, ich genügend trinke. Auf jeden meiner Wünsche wurde versucht einzugehen. Manchmal etwas irrational, aber immer sehr herzlich. Ich habe mich sehr wohl gefühlt, auch wenn die Tage bei der Familie manchmal etwas zu viel Essen und Fernsehen enthielten und es sehr laut werden kann, wenn sich 9 Leute gleichzeitig unterhalten. Und ich war doch sehr froh, als ich (zurück bei der Wohnung der Eltern) mal wieder spazieren gehen und etwas für mich alleine sein konnte. Gastkind zu sein war für mich eine sehr neue, sehr spezielle Erfahrung. Manchmal anstrengend, aber ich werde diese Woche als eine sehr schöne und eindrucksvolle Erinnerung im Gedächtnis behalten. Ich würde sofort wiederkommen. Vielleicht werde ich das auch, eines Tages. Die Einladung steht. Und vielleicht ist mein Chinesisch bisher dahin so gut, dass ich Gespräche besser verfolgen und mich auch mit den Großeltern etwas unterhalten kann.