Erasmus - eine Lebenseinstellung?
Beobachtungen meiner zweiten Auslandserfahrung, oder warum Austauschstudierende und lokale Studierende so schlecht zueinander finden.
Vor einigen Tagen begann an meiner Gastuniversität in Leiden der zweite Block des Herbst- und Wintersemesters.
Ein neuer Block bedeutet neue Kurse, neue Bekanntschaften, und wieder in den Stoff einarbeiten, bis man glaubt langsam einen Überblick zu haben und der Block plötzlich vorbei ist. Das habe ich im ersten Block gelernt.
Also Montagmorgen meinen Rucksack geschnappt und zum ersten neuen Seminar marschiert. Einige der Leute kannte ich dann doch, entweder von der Einführungswoche oder Vorlesungen aus dem ersten Block, und ein Gespräch ergab sich schnell. Zu Stundenbeginn schlichen wir alle gemeinsam in den kleinen Raum im fünften Stock des Universitätsgebäudes, und die Gespräche verstummten erst, nachdem die Professorin uns zweimal ermahnt hatte. So weit, so gut.
Erst beim Aufrufen der Namen ergab sich eine interessante Situation – es stellte sich heraus, dass sich, bis auf wenige Ausnahmen, alle Austauschstudierenden auf eine, und alle niederländischen Studierenden auf die andere Seite gesetzt hatten.
Was ist da los?
Vor meiner Abreise hatte ich immer wieder mit anderen (zukünftigen) Austauschstudierenden gesprochen. Uns alle verband die Angst vor einer Art internationalen ‚Blase’, in die man, einmal im Ausland, nur zu schnell hineinrutscht: Einführungswoche für internationale Studierende, englischsprachige Kurse für internationale Studierende, Drinks für internationale Studierende, und dann die Freunde, die auch irgendwie alle internationale Studierende sind. Das wollte ich – und die Leute, mit denen ich damals sprach – unbedingt vermeiden. Was wäre denn der Sinn von einem Auslandsaufenthalt, wenn man sich im Ausland nur bei anderen Ausländern aufhält?
Dabei hat die internationale Community so ihre Vorteile, die oft unterschätzt werden.
Man führe sich einmal den Auftrag vor Augen, mit dem wir alle einmal ins Ausland gereist sind: Wir wollen eine neue Kultur kennenlernen, eine Sprache lernen, uns in der Stadt wie zuhause fühlen und am Ende des Aufenthalts nicht mehr zögern, wenn uns ein Tourist nach dem Weg fragt. Neben dieser monumentalen Aufgabe will natürlich auch noch die Arbeit für die Uni bewältigt werden, und in der Einführungswoche hat uns irgendwer ein Abo für den Unisport aufgeschwätzt. Erasmus ist ein bisschen wie das erste Semester, nur mit weniger Alkohol und mehr Leistungsdruck. Schließlich hat man das alles schon mal gemacht, und ist jetzt Profi im Ersti-sein. Oder so.
Klingt stressig? Ist auch so.
Wer ganz in der Kultur des Gastlandes aufgehen will, wird im Ausland wahrscheinlich oft enttäuscht. Selbst wenn die Sprachbarriere kein Problem ist (ich sprach bereits Niederländisch, als ich in die Niederlande zog, wenn auch mit flämischem Einschlag), so bleibt doch oft wenig Zeit, um Kontakte zu knüpfen und tiefe Freundschaften zu schließen. Immerhin haben die Mitstudierenden des Gastlandes bereits ihren Freundeskreis, während internationale Studierende sich alle neue Freunde suchen müssen, und so kommt es meist, dass man zwar ein oder zwei lokale Bekanntschaften schließt, aber dann doch die besten Freunde aus der internationalen Community kommen. Das ist auch verständlich, von der Perspektive der lokalen Studierenden aus – wie lohnend ist eine Freundschaft, die nach einem Semester vielleicht ohnehin wieder endet? Währenddessen ist man sich dessen in der internationalen Community durchaus bewusst, aber was will man machen – man schließt trotzdem Freundschaften, und manchmal halten die dann auch länger als nur ein Semester.
Während meines europäischen Freiwilligendienstes hatte ich diese Erfahrung bereits einmal gemacht: Meine neuen besten Freunde (wirklich gute Freunde, mit denen ich heute immer noch in täglichem Kontakt stehe) kamen nicht aus meinem Gastland Belgien, sondern waren andere europäische Freiwillige. Erst nachdem ich, nach über anderthalb Jahres des In-Kontakt-Bleibens mit meinen lokalen Bekanntschaften für ein Praktikum zurückkehrte, konnten diese akzeptieren, dass ich es ernst meinte mit der Freundschaft. Mittlerweile haben wir ein sehr viel engeres Verhältnis als vorher.
Ich machte meinen Frieden mit dieser Tatsache etwa nach der Hälfte meines ersten Blocks des niederländischen Semesters.
Nach einem ermüdenden Morgen in einem meiner Tutorate, wo ich mich mit keinem der niederländischen Studierenden so richtig unterhalten konnte, ging mir mein Fehlschluss auf: Erasmus ist kein Austausch zweier Länder. Der wahre Wert eines Erasmus-Semesters liegt gerade in der europäischen (und meist auch internationalen) Community. Erasmus ist ein europäischer Austausch.
Mittlerweile habe ich auch Niederländer gefunden, die ich meine Freunde nennen kann. Das sind hauptsächlich Menschen, die selbst bereits einen Austausch mitgemacht haben und wissen, wie bereichernd es sein kann, Leute von überall auf der Welt zu kennen. Die wissen auch, dass die meisten Austauschstudierenden gerne in Kontakt bleiben wollen – wahrscheinlich haben sie ja selbst noch Freunde in Deutschland, Finnland, Spanien, der Türkei, oder Ungarn.
Außerdem war ich letzte Woche in Spanien, bei einer alten Bekannten aus den Tagen meines europäischen Freiwilligendienstes. Als ich meinen Freunden in den Niederlanden davon erzählte, waren die verwundert, woher ich so viele Leute überall in Europa kannte. Den Daheimbleibern habe ich geraten: Geht auch mal ins Ausland. Und habt keine Angst vor der Erasmus-Community. Erasmus ist schließlich irgendwie überall, wo man sich im Ausland trifft.