Eine Stadt macht durch
Lublin hat zwar keinen Karneval, dafür aber die alljährliche Kulturnacht. Ein Massenevent ohne aufdringliche Massen. Das Flair dieser Nacht verzaubert das Individuum. Und dieses verzaubert die Stadt.
Der Medizinmann hat alles in seiner Macht stehende versucht. Doch die Wettergötter verweigerten eisern ihren Segen für das Fest. Hoch auf seinem Thron trotzt nur der Stammeskönig dem Dauerregen. Sein Blick schweift majestätisch über das afrikanische Dörfchen aus Zelten, Hockern und Infotischen. Zur Audienz ist sogar das Radio erschienen. Gelächter auf beiden Seiten des Mikrofons, als der König sich mit seinem vollen Namen vorstellt: Abdullmohammedali lässt er sich rufen.
Dem Geruch von warmem Reis folgend gehen wir die Fußgängerzone entlang. Ein Angebot der Katholischen Kirche: Traditionelles afrikanisches Essen gratis, dazu Infos über Frauenrechte. Unaufdringlich möchten die jungen Freiwilligen auf die Probleme des schwarzen Kontinents aufmerksam machen. Doch auch der Draht der etwas im Hintergrund stehenden Priesteranwärter zu Petrus ist gestört. Es regnet und regnet.
Wenn in Lublin plötzlich Könige herrschen, der Campus zum Autokino wird und die Bands ihre Konzerte auf die Dächer der Stadt verlegen, kann das nur eins bedeuten: In der ostpolnischen Stadt ist wieder Kulturnacht. Bereits zum dritten Mal zeigt die polnische Studentenmetropole am 6. Juni, welch kreatives Potenzial in ihr steckt. Dass die Noc Kultury weit mehr als nur eine Nacht der Museen ist, merken wir sofort. An diesem Abend scheint alles gleichzeitig zu geschehen: Kein Wunder bei 250 Veranstaltungen auf engstem Raum. Manches geht im Gewühl unter. Eine Gruppe Jugendlicher drängt sich an uns vorbei. Auf ihrem Rücken tragen sie beleuchtete Bilder durch die Fußgängerzone. Wanderausstellung einmal wortwörtlich. Hinter ihnen schiebt sich eine Kolonne Radfahrer durch die Menge, die für mehr Umweltbewusstsein wirbt.
Langsam lassen wir den Klang der Bongos und den fröhlichen Gesang des afrikanischen Basars hinter uns. Durch das schmucke Krakauer Tor treibt die Menge uns in die Altstadt. Diese brummt seit Stunden vor Konzerten und Performances. Nachwuchskünstler stellen Werke aus, Vereine werben für ihre Tätigkeiten. Kurz: Die Nacht der Nächte vereint alle Kulturschaffenden für einige Stunden. Die Kirche ist genauso selbstverständlich dabei wie Punkbands. Auch Performance-Künstler inszenieren in der Öffentlichkeit.
Für Verwunderung sorgen die Nachttöpfe in den polnischen Landesfarben weiß und rot. Die Installation auf dem Kopfsteinpflaster zieren die Namen bekannter Persönlichkeiten Lublins. Die Einladung zum Probepinkeln lehnen wir dankend ab: "Deutsche pinkeln auf die polnischen Farben" – diese Schlagzeile möchten wir lieber vermeiden. Die Lubliner haben weniger Scheu. Es bleibt aber beim trockenen Probesitzen. Nass ist es ja sowieso schon genug.
Auf dem alten Markt treffen wir die Studentin Agnieszka mit einer Freundin. "Der Regen stört uns nicht mehr. Wir amüsieren uns lieber", behaupten sie. Später berichtet Agnieszka, dass sie eigentlich nichts gesehen hätte. Die Kulturnacht überfordert das Individuum eben.
Um das Verhältnis des Einzelnen zu seiner Stadt geht es den Organisatoren der Kulturnacht besonders. In der Info-Broschüre lesen wir: "Der Mensch und die Stadt sind identisch wie ein Stempel und sein Abdruck. Um Den Menschen in Der Stadt zu finden, reicht es, den Menschen in sich selbst zu finden." Eine schöne Metapher. Man muss dazu wissen, dass die Lubliner Hauptstraßen mit der verwinkelten Altstadt auf der Karte ein Strichmännchen formen.
Der Große Mensch Lublin geht nach der Kulturnacht sicher mit Schwung in den Sommer. Und all wir kleinen Menschen gehen durchnässt, müde und doch zufrieden nach Hause. Heute waren wir die Stadt.