Eine Prise frischer Wind
Zu sagen es wäre immer schön gewesen, wäre falsch. Doch im Grunde kann man überall offene Türen finden, wenn man nur will. Meine Erfahrungen waren eine Achterbahnfahrt, ein Traum, im Rückblick fast schon irreal. Aber die Entscheidung, mich ins Abenteuer zu stürzen, war wohl eine der besten, die ich je getroffen habe.
„And? Did you already find some friends here?” Ich weiß nicht, was ich antworten soll und schaue mich etwas perplex um. „Yes, definitely she has!“ schreit da meine Sitznachbarin.
Eine Welle deutscher Wörter schwappt durch meine englische Schule – „Sir, do you know what you are? A Kartoffel!“. Meine Zeit in England. Drei Monate für ein schüchternes vierzehnjähriges Mädchen. Die Momente haben sich tief in mein Gedächtnis eingeprägt. Ein riesiges Flugzeug, das lautlos durch eine dichte Wolkendecke bricht. Alle sitzen wir da mit einem seltsamen Kribbeln im Bauch, eine unausgesprochene Spannung liegt zwischen uns. Da sehen wir plötzlich Lichter, viele kleine und große, gelbe, weiße, bunte Lichter. Manchester. Wir, das sind die Austauschschüler, die wir jetzt bald alle losgeschickt werden sollen, um unser neues Leben in England zu beginnen, ein Gegenstand vieler Träume. So richtig bewusst ist mir das zu diesem Moment nicht, war es erst, als es bereits vorbei war. Die drei Monate werden eine wahre Achterbahnfahrt. Manchmal wünschte ich mir einfach nur, mich in mein kleines Zimmer verkriechen zu können und meine Ruhe zu haben. Wer waren diese Menschen, was sollte ich zu ihnen sagen? Was sollte ich mit diesen Fish’n’Chips, der Schuluniform, dem Regen, all den neuen Gesichtern, die mich neugierig ansahen? Dann wieder Hochpunkte: „Gehst du mit uns zum bowlen?“, „Wollen wir zu einem Konzert gehen?“, „Hast du Lust, dass wir uns am Wochenende in der Stadt treffen?“. Später lerne ich auch meine anfangs gefürchteten kleinen Nachbarskinder kennen; soziale Unterschicht, Plan: mit vierzehn schwanger werden und vom Kindergeld leben. Aber ich schließe sie in mein Herz und meine Gastmutter ist schon fast etwas genervt, weil sie ständig an unsere Tür klopfen. Ich erinnere mich lächelnd an den Tag als ich mich in meiner Schuluniform auf den Weg zur ersten Stunde mache. Da fängt es plötzlich an zu tröpfeln und die paar Tropfen entwickeln sich zu einem wahren Wolkenbruch. Vollkommen durchnässt, meine Kleidung triefend, stolpere ich schließlich ins Klassenzimmer. Genau in dem Moment wird mir bewusst, was für einen seltsamen Anblick ich abgeben muss. Ich starre meine Klasse an und sie starren mich an. Dann brechen wir alle in Lachen aus.
Es war ein radikaler Wandel, das Neue brach regelrecht über mich herein. Und um ehrlich zu sein, ja, dort habe ich irgendwie ein Stück weit zu mir selbst gefunden.
Ein Jahr später betrete ich in einem fernen Land einen großen Hinterhof. Dasselbe Gefühl der Übelkeit wie bei meinem ersten Schultag in England. Ich bin in Chile, zwei Monate – vermutlich habe ich mich mit dem Reisefieber infiziert. Meine Gastschwester lächelt mich an: „Sie sind super!“. Eine Stunde später bin ich davon selbst überzeugt. Eine Gruppe Pfadfinder steht um mich herum und sie lachen. Verständigung ist schwierig, ich spreche kein Wort Spanisch. „Du bist cool!“ übersetzt meine Gastschwester. „Ihr auch!“ grinse ich. Sie war bereits zwei Monate bei mir und ist somit der perfekte Dolmetscher. Von da an bricht eine unvergessliche Zeit an. Mit Schulfreunden eine Poolparty unter dem weiten Sternenhimmel plus Lagerfeuer. Chilenische Discos, die erst um Mitternacht aufmachen. Filmeabende. Anstatt im Physikunterricht aufzupassen lernen sie mir ein paar Brocken Spanisch. Mit den Pfadfindern Zeltlager, mitten in den Anden. Geldsammelaktionen für Kinder mit Krebs auf der Straße. Demonstrationen – „Keine Angst, ich habe etwas gegen Pfefferspray dabei“. Gemeinsame Abende und Ausflüge. Verständigung mit Händen und Füßen. Die Familie meiner Gastschwester. Der Blick auf den Pazifik. Doch die sozialen Abgründe sind unübersehbar. Am meisten beeindruckt haben mich die Tage in den Armenvierteln. Leben unter Planen, Müll überall. Und trotzdem wurde ich überall herzlich aufgenommen und meine Hautfarbe bestaunt. Die Kinder zeigten mir stolz ihr Spielzeug. Ein Junge in zerfetztem Spiderman-Kostüm stürmte begeistert auf mich zu. In einem Baumhaus gaben meine Gastschwestern ihnen Nachhilfe. Abends gab es dann Kuchen und Saft für alle.
Wieder ein Jahr ist vergangen. Und schon wieder bin ich weg von zu Hause, an der Ostsee. Wir sind eine Gruppe von 15 Leuten, 15 Freiwillige aus Deutschland, Korea, Mexiko, Russland, Serbien, Italien und Tschechien. In unseren anfangs etwas hilflosen Gesprächen, in denen wir meist dieselben Fragen zehnmal stellen („Was it you that had the three dogs?), wissen wir noch nicht, was für eine enge Freundschaft sich zwischen uns entwickeln sollte. Anfangs ängstlich vor Tabus – durfte ich mich bei meiner koreanischen Zimmernachbarin nach Politischem oder Privatem erkundigen? – brach schließlich das Eis und wir verbrachten alle jede freie Minute zusammen. Spaziergänge, Kartenspiele, Arbeiten, Musik hören, Tischtennis, erste Regel: „No sleep, let’s be together“. Das war mein Workcamp und die zwei Wochen waren schneller vorbei, als uns lieb war.
Doch – wie lebt man mit diesen Erinnerungen, bei denen man zu Hause nicht weiß, wie man sie bei der Frage „wie war‘s?“ in ein paar Sätzen formulieren soll. Die Erfahrungen, die ich gesammelt habe, erscheinen mir wie ein Traum, und ich wünschte, Europa könnte diese Erfahrungen auch an Leute weitergeben, denen es vielleicht nicht so gut geht, wie den meisten von uns.
In England habe ich zur Musik gefunden, Konzerte, gemeinsames Singen in den Zwischenstunden, Punks, englischer Spleen, den Mut anders und nicht schüchtern zu sein. In Chile die Offenheit und Herzlichkeit aller Menschen entdeckt. Beim Workcamp, dass man im Grunde nirgendwo fremd sein kann, nicht in Europa, nicht in Südamerika, nirgendwo. Wenn man nur will, steht einem überall eine Tür offen. Ich war wieder in England, in Chile, Leute vom Workcamp sind immer wieder bei mir zu Gast oder ich bei ihnen und wir schicken uns Briefe und Päckchen. Ja, es tut weh zu sehen, dass jedes Leben trotzdem gnadenlos weitergeht, man kann den Moment nicht festhalten – aber es wird immer etwas hängenbleiben und man wird den Teil von sich selbst entdecken, der im jeweiligen Land nur auf einen gewartet hat. Zu Hause – das kann man überall sein.